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Promenadologie: Ich fröne der Wissenschaft vom Spaziergang

Promenadologie ist für mich das Wort des Jahres 2020. Corona als Wort des Jahres zu wählen, ist einfallslos und langweilig. Ich habe für mich die Promenadologie entdeckt. Das ist die Wissenschaft vom Spazierengang, wobei Wissenschaft in meinem Fall ein bisschen übertrieben ist. Aber seit ich das Wort entdeckt habe, schätze ich das Spazierengehen noch mehr als sowieso schon immer.

Ich war schon immer ein großer Fußlatscher. Zu Fuß gehen habe ich immer gemocht. Schon als Kind bin ich anstatt mit dem Fahrrad lieber die knapp drei Kilometer zur Schule zu Fuß gegangen. Mein Antrieb damals war, dass ich dabei ein Weilchen meine Ruhe hatte und gut nachdenken konnte. Das ist noch heute etwas, was ich am Spazierengehen schätze.

Gehen, um nachzudenken

Mit hat mal ein Vorsitzender Richter am Landgericht erzählt, er arbeite auch, wenn er nachmittags am Fluss spazieren gehe. Das habe ich etwas belächelt. Aber der Mann hat Recht: Nirgends lässt sich so gut nachdenken wie beim Gehen. Höchstens noch unter der Dusche. Die Kunst liegt lediglich darin, sich auf das zu konzentrieren, weshalb man gehend seine Gedanken schweifen lassen möchte.

Bei der Promenadologie kommt noch etwas hinzu: die Durchdringung von Gehen, Wahrnehmen und Denken. Da kann die Wahrnehmung schon mal das Denken ablenken. Kann ich mir jedenfalls gut vorstellen. Genau das, die Wahrnehmung, schätze ich so sehr am Spazierengehen. Wer Fahrrad fährt, sieht schon mehr von seiner Umgebung als derjenige, der Auto fährt. Wer spazieren geht, hat noch mehr von dem, was rechts und links des Weges liegt.

Meine tägliche Promenadologie

Sogar dann, wenn der Weg oft derselbe ist. Seitdem ich meine Tage im Homeoffice verbringe, breche ich jeden Morgen zu einem etwa vier Kilometer langen Spaziergang auf. Meistens geht es rund ums Haus, alle vier Himmelsrichtungen beziehungsweise die in diese Richtungen führenden Wege kommen abwechselnd an die Reihe.

Da rund ums Haus nur Wiesen, Felder und kleinere Wälder liegen, gibt es unterwegs vor allem Natur zu sehen. Da ich diese Spaziergänge seit Anfang November unternehme, habe ich einen Eindruck davon, wie sich die Landschaft mit fortschreitender Jahreszeit verändert. Mehr ist unterwegs meistens nicht los. Trotzdem sehe ich manches, was ich sonst nicht entdeckt hätte, etwa beim Gang durchs nahe Dorf, das ich auf meinen Spaziergängen in die eine Richtung erreiche und in dem ich umdrehe, um zurück zu gehen.

Ich entdecke bei meiner privaten Promenadologie aber noch etwas anderes. Beim Losgehen denke ich noch übers Gehen nach. Nach etwa fünf Minuten habe ich meinen Rhythmus gefunden, dann beginnen die Gedanken und der Blick zu schweifen. Das Gehen geschieht automatisch, und mit jedem Schritt wird es flüssiger und leichter. Die Zeit zum Entdecken und Nachdenken beginnt. Den Erfindern der Spaziergangswissenschaft, wie die Promenadologie übersetzt heißt, ging es im Gegensatz zu meinen morgendlichen Spaziergängen jedoch vor allem um das Gehen im urbanen Raum.

Am liebsten im urbanen Raum

Das liebe ich genauso wie den Gang durch die Natur. Ich liebe es, Vorgärten und Häuser zu betrachten, mich an ungewöhnlicher Architektur zu ergötzen, Menschenund Verkehr zu beobachten. Dafür müsste ich mich aber ins Auto setzen, um überhaupt erstmal eine Stadt zu erreichen, und deshalb schiebe ich Spaziergänge möglichst immer dann ein, wenn ich sowieso irgendwo anders bin.

Lucius Burckhardt, der Erfinder der Promenadologie, hat noch viel mehr in sie hineingelegt. Es ging ihm um Stadtplanung, darum, herauszufinden, was man warum sieht und wie man sich verhält. So weit will ich nicht gehen (im übertragenen Sinne). Ich liebe Spaziergänge deshalb, weil ich es mag, langsam Straßen, Plätze, Städte, Dörfer, Wälder und Felder zu erkunden. Wenn mir etwas auffällt, halte ich es gern mit der Kamera fest. Das mache ich bereits seit Jahren.

Seit diesem Jahr weiß ich, dass ich damit Promenadologie betreibe. Seitdem ich das Wort kenne und es fehlerfrei aussprechen kann – das hat ein Weilchen gedauert – liebe ich es sehr. Als geht es morgen früh wieder los, eine kleiner Promenade unternehmen. Mal sehen, welche Himmelsrichtung ich ansteuere.

Beste Beschäftigung im Lockdown

Da jetzt der zweite Lockdown verkündet worden ist, werden Spaziergänge noch viel wichtiger, aber natürlich gerade nicht im urbanen Raum. Wenn alles andere ausfällt, gibt es nichts besseres, als auf einsamen Wegen unterwegs zu sein. Ein Ansteckungsrisiko gibt es dort nicht. Ein Zeitvertreib, der nicht nur gesund, sondern auch noch sinnvoll ist. Denn wie die Promenadologie lehrt: Spazierengehen ist mehr als nur herumzulaufen.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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