Zur Frühgeschichte von Gandersheim

Von Christian Frege, Bad Gandersheim

852 gründete Herzog Ludolf das Kanonissenstift Gandersheim. Bedeutende Persönlichkeiten folgten von da an im Glanz der Geschichte: sein Enkel Heinrich I., Deutscher König, dessen Sohn Kaiser Otto I. der Große, Roswitha von Gandersheim, erste deutsche Dichterin, und viele mehr.

Bei so viel Geschichte blieb die Frühzeit vor der Stiftsgründung fast ganz unbeachtet. Weder bei Geschichtsschreibern noch dem „Portal zur Geschichte“ noch im Stadtmuseum sind fundierte Hinweise zur Frühgeschichte von Gandersheim zu finden. Einzige Überlieferung ist, dass Ludolfs Großvater Liutorf 783 das Kloster Brunshausen gegründet haben soll. Herzog Ludolf ist nicht einsam „aufgetaucht“, so wie der Eindruck erweckt wird, sondern hatte Verwandte, Vorfahren und ein Volk.

Gandersheim war lange besiedelt

Hügelgräber aus der Bronzezeit 1200 vor Christi zeugen auf dem Helleberg und dem Kühler davon, dass Scharen von Arbeitern dutzende Grabhügel gebaut haben. Auf dem Kühler sind sie schwer zu finden und nicht durch Pfade erschlossen. Auf dem Helleberg künden einige Mulden von früherer Raubgräberei.

Von 0 bis 800 nach Christi war die Zeit der Völkerwanderung und der Sachsenkriege. Dörfer und Wohnstätten verschwanden, Burgruinen aber sind Beweise dafür, dass Südniedersachsen kein leerer Raum war. An Ausgrabungen sind zu nennen:

Vogelsburg bei Vogelbeck

Pipinsburg bei Osterode

Düna bei Osterode

Pöhlde bei Herzberg

Kanstein bei Langelsheim

Werla bei Schladen

Die Menschen bei Gandersheim siedelten in der fruchtbaren Heberbörde in Altgandersheim und im Westen in Süd-Ludolfshausen, Meierhof und Wiek. Dieser Platz war von Viehhaltung geprägt. Im Buch „Ur- und Frühgeschichte in Niedersachsen“ von Hans-Jürgen Häßler steht: „Untersuchungen von Tierknochenresten aus der früh- bis spätmittelalterlichen Wüstung Medenheim bei Northeim haben ergeben, dass 99 Prozent der Knochen zu Haustieren und nur ein Prozent zu Wildtieren gehören.“

Aus der Landschaft kann man Frühgeschichte ablesen

  1. Einige parallel verlaufende uralte tiefe Hohlwege gehen von der Wiek – nicht vom Stadtgebiet aus, hinauf zum Hagenberg – nicht zu einem Dorf, sondern zu den Viehweiden auf dem Clusberg. Es sind Viehtriften, ausgetreten, nicht ausgewaschen. Sie sind Beweis, dass die Wiek schon vor der Stiftsgründung ein Wohnplatz mit Viehhaltung war.
  2. Vom Meierhof führt ein Damm, der Schwarze Weg, quer durch die ehemalige Sumpflandschaft zum Lahberg. Auch er war Verbindung zu Viehweiden und vielleicht zu der auf der Höhe des Berges verlaufenden „Fernstraße“.
  3. Der Subecksweg ist Überbauung eines ehemaligen Bachlaufs Subeck = Saubach, in alten Karten. Hier wurden in der Frühzeit vom Meierhof Schweine gehalten.
  4. Der Südhang des Hagenbergs ist eine kleinteilige, sehr alte Heckenlandschaft. Als Gandersheim in Stadtmauern eingeschlossen war, hatten „Ackerbürger“ hier Gärten und kleine eingefriedete „Ziegenweiden“. Solche Landschaft ist kulturgeschichtlich und als Naturschutz-Lebensraum einzigartig wertvoll und unbedingt zu erhalten, weil bei anderen mittelalterlichen Städten durch ausufernde Bebauung verschwunden. Auf alten Stadtbildern ist das Hecken-Mosaik zu erkennen.
  5. Etwa bis in das 16. Jahrhundert floss die Gande durch die Stadt und Steinweg und Pump, wurde dann außerhalb der Stadtmauer in das heutige Bett verlegt. Der zweite, westlich abknickende Teil des Mühlengrabens zeigt den geschlängelten Lauf der alten Gande.
  6. Salz war früher ein seltenes Gut, = „weißes Gold“. Die Gandersheimer Salzquellen mögen Menschen angezogen haben. Quellen müssen gepflegt werden, sonst versickern sie. Die warme Salzquelle in der Salzwiese wurde etwa 1990 von der Stadt an einen privaten Anlieger verkauft, der sie verrohrt und zugeschüttet hat.
Die Straße An der Wiek außerhalb der Altstadt: Von hier aus führten die Hohlwege den Hang hinauf.
Der Verlauf von Hohlwegen und Hecken von der Wiek auf die Höhen.
Hecken am Clusberg auf einem Kupferstich von 1654 (Blick nach Norden).
Heckensystem mit einzelnen Bäumen am Clusberg um 1910 (Blick nach Norden).
Die Stadt mit Hohlwegen und Hecken auf den Höhen.

Gedanken zur Entstehungsgeschichte von Gandersheim

Als „Wunder“ wurde beschrieben: Eine Flamme hat als Zeichen Gottes angezeigt, dass hier die erste Stiftskirche zu bauen war, – in einem Sumpfgelände. Wer in der Innenstadt gräbt, stößt auf Torfschichten. Es mag aus dem Morast Methangas entwichen und vielleicht vom Blitz entzündet worden sein. Auch Morast, Methan und Blitz gehören zur Schöpfung Gottes.

Neben diesem Zeichen waren es sicher handfeste andere Voraussetzungen dafür, gerade hier ein Stift zu gründen.

  1. Menschen: Wo irgend ein Kloster entstand, waren vorher schon Ansiedlungen, hier in der Wiek und Heberbörde. Die Stiftsdamen haben keine Bauarbeiten geleistet, dazu brauchte man ein ganzes Team von erfahrenen Männern. Schon vor der Stiftsgründung gab es kleine Kirchen bei St. Georg und Brunshausen – Beweise für ältere Siedlungen. Gandersheim hat auch eine Geschichte vor Herzog Ludolf. Es ist wichtig, diese besser zu erforschen.
  2. Wasser: Sehr viele Klöster sind an Flüssen und in Sumpflandschaften entstanden (Corvey, Loccum, Bursfelde, Walkenried). Ein kleiner Bach, der vielleicht noch zeitweise austrocknet, reicht nicht für eine größere Gemeinschaft. Allein das Wegspülen von Fäkalien und Abfällen war die notwendige Entsorgungsmöglichkeit. Auch die Anlage von Fischteichen für die Fastenzeit machte den Bauplatz im nassen Gelände zweckmäßig. Die Gande floss früher durch Neustadt und Steinweg.
    Die Behauptung, die Straßenkreuzung in der Stadt sei eine alte Kreuzung von Handelsstraßen und damit für den Standort erheblich, muss angezweifelt werden. Im ersten Jahrtausend führten Straßen immer auf den trockenen Kammlinien der Bergrücken entlang. Im Sumpfgelände Gandetal, etwa von Kreiensen her, gab es keine Straße. Die Verbindung nach Clus ging nicht, wie heute, von Brunshausen aus, sondern über Clusgasse und Clusberg. Noch vor 140 Jahren lief die Hildesheimer Straße nicht östlich, sondern westlich an Brunshausen vorbei, etwa auf dem Skulpturenweg. Alte Karten beweisen das. Die Landschaft war früher fast nicht entwässert. Alle Sümpfe waren unpassierbar. Wenn ein Straßenkreuz für Gandersheim bedeutsam war, so konnte es vermutlich nur bei Dreilinden gelegen haben. Dort lag das Dorf Rickelshausen und der Kriegerweg in Richtung Seboldshausen, wahrscheinlich sehr alt. Wenn die Straßenkreuzung für den Standort der Stiftskirche so wichtig gewesen wäre, warum hat man sie dann nicht auf der Höhe gebaut?
    Zur Standortfrage der Stiftsgründung sollte man nicht einst hingeschriebene Begebenheiten immer wiederholen, sondern sich mit Vernunftgründen und Beobachtung der Landschaft auseinandersetzen.
Die auf das 10. Jahrhundert zurückgehende Kirche St. Georg. An ihrer Stelle befand sich bereits 852 ein „Wik“, ein Handelsplatz.

Wüstungen um Gandersheim

Vor mehr als 300 Jahren gab es nahe bei Gandersheim die Dörfer oder Weiler Melkershausen, Süd-Ludolfshausen, Nord-Ludolfshausen, Adestessen und Rickelshausen. Alle sind im 16. und 17. Jahrhundert zu Wüstungen verfallen. Wo sie lagen, zeigt die Karte von 1768 – auch, dass die Straße nach Lamspringe westlich an Brunshausen vorbeiführte, wo heute der Skulpturenweg ist. Dort, wo sie östlich verläuft, war es damals im Sumpfgebiet der Gande gar nicht möglich. Wohl auf der alten Straße wurde später die Eisenbahnlinie gebaut.

Karte mit dem Aussehen der Umgebung von Gandersheim 1746-1784
Etwa derselbe Kartenausschnitt im Jahr 1876.