Der "Journalist"-Titel zur geschlechtergerechten Sprache.
gedacht,  Pyrocontra

Minderheiten: Wie viel Rücksicht darf’s denn sein?

Auslöser für diesen Text ist die Debatte über die Widerspruchsregelung zur Organspende. Während alle noch über das Für und Wider debattierten, kam von irgendwoher die Anmerkung, es sei auf Menschen Rücksicht zu nehmen, die sich nicht entscheiden könnten. Dazu entfuhr mir dieser Tweet: „Man muss nicht für jede noch so kleine Gruppe eine Extrawurst braten.“

Zugegeben, das war etwas rüde formuliert, ähnlich wie der Titel zu diesem Text. Aber während Menschen mit dem Tode ringen, weil sie dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind, und andere die Sorge umtreibt, möglicherweise irgendwann keine Herrschaft mehr über ihren hirntoten Körper zu haben, die Interessen einer sicher kleinen Gruppe ins Spiel zu bringen, finde ich merkwürdig. Doch es passt ins Bild.

Es macht sich nicht überall, aber zunehmend eine Haltung breit, dass immer und überall, bei jeder Äußerung und jeder Formulierung, auf die kleinste noch denkbare Gruppe Rücksicht zu nehmen sei. Das mag im Interesse der Betroffenen liegen. Aber liegt es nicht auch im Interesse der Mehrheit, sich mittels einfach formulierter Argumente über grundlegende Fragen des Daseins auszutauschen und zu Entscheidungen zu kommen, die der Gesellschaft nützen?

Wir können nicht alle mitmeinen

Weg mit der politischen Korrektheit also? Keineswegs, auch wenn ich den Ausdruck nicht mag. Ich bin dafür, stets vernünftig und nicht verletztend zu sprechen. Das hat mich meine gute Kinderstube gelehrt. Ich rede nicht abfällig über oder mit anderen, ich bezeichne Menschen nicht mit Ausdrücken, die sie abwerten oder die rassistisch oder menschenverachtend sind. Aber meine Bereitschaft, meine Sprache und mein Schreiben zu verbiegen, um alle mitzumeinen, ist begrenzt. Kleines Beispiel: Das Gendersternchen.

Ich lehne es strikt ab. Ich kann es nicht ausstehen. Und auch nicht die Alternativen, sei es der Doppelpunkt oder sonst eine Konstruktion. Gerade beim Gendersternchen unterliegen dessen Befürworter einem großen Irrtum. Richtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden hat, dass ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister, also etwa in der Geburtsurkunde, möglich sein muss.

Kein Sternchen vom Gericht

Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht entschieden, dass das dritte Geschlecht oder von mir aus auch jedes weitere in jedem Text zu finden sein muss. Kein oberster Richter hat verfügt, dass alle jetzt das Gendersternchen verwenden müssen. Alle, die sich bei ihren Argumenten dafür auf das Verfassungsgericht berufen, liegen damit falsch.

Vor allem aber; Lediglich 0,02 Prozent der Bevölkerung rechnen sich nicht eindeutig einem Geschlecht zu. In Deutschland gibt es vermutlich etwa 100 000 Intersexuelle, in meinem Bundesland Schleswig-Holstein gibt es laut einer Umfrage von dpa nicht einen einzigen „Divers“-Eintrag im Personenstandsregister. Ganz ehrlich, und auch, wenn ich dafür verbale Prügel beziehe: Wollen wir wirklich unsere Sprache durch das Gendersternchen verhunzen, um eine so kleine Gruppe stets mitzumeinen. Ich jedenfalls schreibe kein Gendersternchen, zumal ich mich als Frau sogar beim generischen Maskulinum mitgemeint fühle.

Beratung kann helfen

Aber zurück zur Organspende und zur Widerspruchsregelung. Es geht dabei um Leben und Tod. Kein Wunder, dass das Thema intensiv diskutiert wurde. Was ich aber gar nicht nachvollziehen kann, ist der Hinweis auf diejenigen, die sich nicht entscheiden können, aus welchen Gründen auch immer. Muss angesichts einer so wichtigen Frage darauf Rücksicht genommen werden? Und wie soll das aussehen? Angenommen, die Widerspruchsregelung wäre beschlossen worden. Es hätte sich doch bestimmt ein Weg gefunden, die kleine Gruppe derer, die damit Probleme haben, zu beraten.

Anderes Beispiel: Soldaten in Uniform haben freie Fahrt in der Bahn, müssen keine Fahrkarte lösen. Seitdem das gilt, sind vor allem am Freitagabend die Züge voll mit Uniformierten. Ich habe schon von Bahnreisenden gelesen, die sich dabei unwohl fühlen, so, als wäre ein Krieg ausgebrochen, und die deshalb sogar einen Zug später genommen haben. Andere finden nichts dabei. Es gibt sicher viele Gründen, die Freifahrt via Uniform falsch zu finden. Aber müssen wir nun auf die Rücksicht nehmen, die sich im Angesicht von Flecktarn unbehaglich fühlen? Ein Twitter-User, der eine solche Rücksicht als arrogant bezeichnete, bekam gleich einen – vielleicht ironisch gemeinten – Schuss vor den Bug: „Entschuldige? Es ist arrogant nicht auf alle Ängste dieser Welt Rücksicht zu nehmen!“

Kein Plädoyer für Hass

All das sind nur Beispiele. Um hier keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen: Ich finde, Rücksicht ist es etwas Gutes. Ich würde nie jemanden herabwürdigen, beleidigen, mit Hass überziehen und will auch nicht, dass andere es tun. Ich glaube nur daran, dass eine Gesellschaft, eine Mehrheit nicht auf jede Minderheit immer und überall Rücksicht nehmen kann. Mal ganz abgesehen davon, dass vielen gar nicht einfällt, wer das sein könnte, würden wir uns damit heillos verzetteln. Nicht nur sprachlich, auch gedanklich. Am Ende käme für niemanden etwas Gutes dabei heraus.

Am Schluss noch ein Tweet, den ich unterschreiben kann: „Ich finde, jeder ist für seine eigene Wahrnehmung und seinen Umgang mit Dingen selbst verantwortlich. Ich kann nicht erwarten, dass die Welt auf jede meiner individuellen Befindlichkeiten Rücksicht nimmt.“

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

5 Kommentare

  • Der Emil

    „Wir können nicht alle mitmeinen“

    Und selbst, wenn ich es versuche, und von Menschen spreche, gibt es Genderist’außen, denen das nicht paßt. Leider, leider ist in den letzten 30 Jahren viel Vernunft verschwunden …

  • Steffen

    Ich weiß, in der Zeitung ist der Platz knapp und da ist es schlicht praktisch, wenn man Frauen nicht erwähnt und sie bei der männlichen Form immer mit meint. Für „Bürgerinnen und Bürger“ ist da kein Platz. Außerdem macht es den Text auch nicht leserlicher.

    Wäre es da nicht praktisch, wenn man mit Bürger:innen einfach alle meint? Erst einmal ist das objektiv betrachtet nur eine Veränderung der Sprache. Ob das eine Verbesserung oder eine „Verhunzung“ ist, bleibt zu bewerten.

    Der Stern oder der Doppelpunkt oder der Punkt sind Satzzeichen. Die wurden in der Vergangenheit auch schon anders benutzt. Warum sollte man sie heute nicht so benutzen? Außerdem ist niemand gezwungen Rücksicht auf irgendwen zu nehmen. Du kannst auch weiterhin so schreiben wie vor 50, 100 oder 200 Jahren. Wer zwingt Dich?
    https://kaffeeringe.de/2016/08/29/political-correctness-und-gendersprache/

    • Susanne

      Es geht mir nicht nur ums Schreiben, sondern auch ums Lesen. Ich habe letztens einen Text weggeklickt, weil mich die Menge an Sternchen ganz wuschig gemacht hat. Da finde ich den Doppelpunkt deutlich angenehmer. Ich könnte auch mit einem generischen Femininum leben.
      Nicht vergessen werden darf, dass das Sternchen nur ein Teil all der seltsamen Schreibweisen ist, es kommen noch etliche hinzu von Deppenleerzeichen bis Binnenmajuskeln. Alles zusammen macht das Lesen manchmal für mich zur Qual.
      Und noch ein Punkt: Warum meinen Männer immer, Frauen sagen zu müssen. Dass sie sich nicht mitgemeint fühlen?

  • Horst Schulte

    Die mit solchen Rücksichtnahmen verbundenen Mühseligkeiten scheinen einen Beitrag bei der Demokratieverdrossenheit zu leisten. Andere Beispiele haben weitaus größere Auswirkungen. Bundeswirtschaftsminister Altmaier sagte kürzlich in einer Talkshow, an jedem Windrad hängt eine Bürgerinitiative. Die Politik wird gescholten, weil der Windkraftausbau nicht vorankommt. Altmaiers implizite Gegenfrage: „Wie halten Sie’s mit der Demokratie?“. Es gibt nicht wenige, die die rigorose Vorgehensweise der chinesischen Behörden bei Bauprojekten im Grunde bewundern. Sie vergleichen China mit Deutschland und sehen nicht auf Menschenrechtsverletzungen, sondern nur auf die Effizienz. In der Türkei (Flughafen Ankara) gehen Bauvorhaben gewisser Größenordnungen ebenso deutlich schneller vonstatten. Die negativen Seiten der Mühsal von Abstimmungsprozessen in einer Demokratie werden auch sichtbar in Diskussionen mit den FFF-Leuten. Die glauben, dass alles viel zu langsam abläuft. Sie sehen nicht, dass ihre Haltung, so richtig sie vielleicht sein mag, für andere keine Priorität haben. Die Frage ist, wer sich für diese Basisrechte eigentlich noch einsetzen mag. Ehrenamtliche Politiker werden bedroht und beschimpft. Vielleicht sind sogar sehr liberale Gesellschaften mit all diesen Anforderungen, die wir uns in den letzten Jahrzehnten aufgebürdet haben, überfordert? Folgenlos bleibt all das jedenfalls nicht. Und natürlich gehören die Gendersternchen auch mit dazu.

    • Susanne

      Ja, das Thema ist kompliziert und es gibt so viele Beispiele. Ich will auch nicht, dass etwa bei Bauprojekten alle Einwänder einfach abgebügelt werden. Jeder soll seine Einwände vorbringen können. Sie müssen bedacht und abgewogen werden. Aber es gibt eben auch eine Menschen, die nicht nur nicht zu überzeugen, sondern auch absolut nicht kompromissbereit sind. Es allen recht zu machen, funktioniert leider auch nicht. Die Frage ist, ob nicht Menschen etwas im Interesse der Gesellschaft oder der großen Mehrheit hinnehmen müssen, etwa die Windkraft. Nach jedem Abstimmungsprozess muss eine Entscheidung getroffen werden. Wir sollten uns die Mühsal dieses Abstimmungsprozesses antun, aber eben doch am Ende zu einem Ergebnis kommen. So oder so.

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