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Ein etwas bissiger Rückblick: Hater, Zynismus und mehr

Nein, das hier wird kein Jahresrückblick. Es sind einfach nur ein paar Gedanken, die sich mir in den vergangenen Monaten aufgedrängt haben. Die ich aufschreibe, um sie für mich selbst klar im Kopf zu bekommen. Schreiben schärft die Gedanken. Und warum soll ich niemanden an dem teilhaben lassen, was mir durch den Kopf geht? Insofern ist es doch eine Art Ein-paar-Monate-Rückblick.

Zynismus:

Gerade ist er wieder durch, der alljährliche Spendenmarathon zu Weihnachten. Für viele gute Zwecke wurde Geld gesammelt, und die Menschen zeigten sich spendabel wie eh und je. Das ist auch gut so. Was mich besonders freut: Meine Zeitung, die Lübecker Nachrichten, haben in diesem Jahr in Ostholstein Geld gesammelt, um Flüchtlingen Sprachkurse zu ermöglichen. Ohne Sprache keine Integration. Meine anfängliche Skepsis, ob die Menschen bereit sind, für diesen Zweck zu spenden, ist schnell verflogen. Es kam viel, viel Geld zusammen. Sogar Einzelspenden von 1500 Euro. Ich freue mich, dass die Menschen Not sehen, wo sie herrscht. Ohne Ansehen der Nationalität oder des Status‘.

Das bekämpft den Zynismus, den ich angesichts sozialer Not hierzulande im Laufe der Zeit entwickelt habe. Früher, vor ganz vielen Jahren, habe ich noch viel Verständnis für Menschen in finanziellen, vor allem sozialen Notlagen aufgebracht. Doch je länger ich mich mit diesen Menschen beschäftigt habe, desto zynischer wurde ich. Nicht weil ich die Not nicht gesehen habe. Sondern wegen des Klagens, das viele Menschen aus dieser Gruppe offenbar kultiviert haben. „Alt, arm, arbeitslos, krank und das alles auch noch unverschuldet.“ So lautet der Spruch, der mir immer öfter durch den Kopf ging. Nicht völlig zu Unrecht. Aber doch ein bisschen. Ich habe übersehen, dass das nur die sind, die am lautesten schreien. Daneben gibt es viele, die Not leiden, aber nie andere damit behelligen würden. Es gibt sie immer noch, die Unglücks-Schreihälse, aber ich höre sie nicht mehr so oft und mein Zynismus hat sich etwas gelegt. Jammerei macht mich noch immer aggressiv, aber längst nicht so sehr wie noch vor einigen Jahren. Ich mag mich nicht, wenn ich so zynisch bin.

Noch ein Wort zu den Flüchtlingen. Ich habe über Jahre Asylbewerber für Reportagen besucht. Sie kamen aus aller Herren Länder, waren mal in Sammelunterkünften, mal in Wohnungen untergebracht. Stets aber bin ich äußerst freundlich empfangen worden. Mehr noch: Ohne ein üppiges Essen, für das offenbar tagelang vorher gebacken und gekocht wurde, gingen solche Besuche nie ab. Ich kann vor so viel Freundlichkeit und Mühe für andere, vor so viel von Herzen kommender Gastfreundschaft nur den Hut ziehen. Diese Menschen haben wenig bis gar nichts, aber das teilen sie gerne.

Netz-Etikette

Ich habe in jüngster Zeit Wörter gelernt, die ich nicht für möglich gehalten hätte: Hater, Macker, Maskulisten, Derailing, Triggerwarnung (Glossar). Ich weiß nicht warum, aber irgendwann habe ich angefangen, neo-feministische und ähnliche Accounts bei Twitter samt der dazugehörigen Blogs zu verfolgen. Da tun sich Abgründe auf. Wenn es um Feminismus, Antirassismus und andere -ismen geht, gibt es zumindest im Netz kein Halten mehr. Ich habe mir das aus der Ferne angeguckt und mich nur selten eingemischt. Wenn ich es doch getan habe, gab es die erwarteten und bekannten Folgen. Ich wurde runtergeputzt. Es gibt viele gute Texte zu diesem Phänomen, das in dem Twitteraccount @blockempfehlung mündete. Ich will hier die vielen Argumente, die ich gelesen habe, nicht wiederholen. Niemand hat eine bessere Zustandsbeschreibung abgegeben als @turbozopf mit diesem, oft zitierten Text.

Etwas andere treibt mich in diesem Zusammenhang um. Die extrem niedrige Empfindlichkeitsschwelle der radikalen Feministinnen und Antifaschisten und ihre Radikalität, anderen Menschen das Recht auf Meinungsäußerung abzusprechen und sie als Trolle zu diffamieren.

Zunächst zur Empfindlichkeit. Ja, ja, ich weiß, es steht mir nicht zu, anderer Leute Be- und Empfindlichkeit zu beschreiben oder gar zu kritisieren. Oder anders formuliert: Was Diskriminierung ist bestimmen die, die sich diskriminiert fühlen, nicht die anderen. Und schon gar nicht die (Nicht)diskriminierer. Aber ich lasse mir nicht ausreden, dass Menschen unterschiedliche Schmerzschwellen haben und dass fortgesetzte Beschäftigung mit angeblicher oder echter Diskriminierung – das steht hier stellvertretende für alle Arten – dazu führt, die Antennen dafür besonders weit auszufahren. Wenn ich Rassismus, Antifeminismus oder Diskriminierung sehen möchte, sehe ich sie auch. Ich frage mich immer wieder, wie es sich lebt, wenn die Gedanken immer nur um ein Thema kreisen. Wenn ich immer nur in mich hinein höre, jede Äußerung anderer darauf abklopfe, ob sie mich verletzt oder einschränkt oder mir Raum nimmt. Unvorstellbar für mich. Deshalb liegt meine Schmerzgrenze deutlich höher.

Wie sehr sich die angeblich aller Diskriminierung bewussten Menschen um sich selbst drehen und dabei jede Befindlichkeit anderer negieren, beweist dies:

Dass wir uns nicht falsch verstehen. Ich finde Gleichberechtigung wichtig und ein erstrebenswertes Ziel, das sicher noch lange nicht erreicht ist. Aber ich finde, dass es wichtigeres zu erreichen gibt, als gegenderte Texte, gar das generischische Femininum. So lange Frauen

frau

  • nicht sicher sind vor (häuslicher) Gewalt und sexuellen Übergriffen
  • gezwungen werden, sich völlig oder fast völlig zu verhüllen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen
  • es eine Herdprämie (Betreuungsgeld) gibt
  • Frauen in gleicher Position weniger verdienen als Männer

so lange finde ich die mimosenhaften Empfindlichkeiten angeblich von weißen Cis-Männern in ihrem Leben marginalisierter Frauen überzogen und exaltiert. Staunend stehe ich übrigens immer wieder vor der Formulierungskunst der Protagonistinnen dieser Bewegung. Solche Konstruktionen wollen erst einmal ausgedacht und formuliert werden:

„(Hetero-)(cis-)sexistische, ableistische, rassistische, antisemitische oder sonstwie diskriminierende Aussagen“ „raumeinnehmendes Mackergedöns“ „mein text handelt nicht von rassismus. mein text handelt von silencing marginalisierter gruppen“

Und noch ein Passus, der in vielen Netiquetten feministischer Blogs vorkommt:

„Wir dulden keine Kommentare mit rassistischem, sexistischem, ableistischen, heterosexistischem, nationalistischem, cis-sexistischem, lookistischem oder anderweitig diskriminierendem Inhalt.“

Zum Abschluss habe ich noch einen Tweet, der belegt, in welchem Stil in diesen Kreisen debattiert wird.

Online versus Print

Die Debatte bewegt seit einigen Jahren mein Leben als Redakteurin. Print kenne ich, mache ich seit über 30 Jahren. Online nimmt einen immer breiteren Raum in der Redakteursarbeit ein. Ich mag online. Da ist zum einen die Schnelligkeit dieses Echtzeitmediums. Das ist Herausforderung, aber auch Reiz dieser Journalismus-Form. Zum anderen mag ich die ungeheuren Möglichkeiten, die Fotogalerien und Videos bieten. Vor allem aber hat mich online – und das wird von vielen Kollegen verkannt – von den Längenvorgaben befreit. Onlinetexte können so kurz oder so lang sein wie nötig. Kein Seitenspiegel begrenzt den Schreibfluss, kein Text ist zu lang für eine Zeitungsseite oder muss gekürzt werden, weil der Platz nicht reicht und an nachrichtenstarken Tagen andere Themen mehr Raum auf den Seiten einnehmen. Online ist ein Zwang – der zur Schnelligkeit -, aber auch eine neue Freiheit. Die Freiheit, Texte so lang oder so kurz zu schreiben, wie es der Stoff nun mal hergibt.

Eine Begrenzung bleibt allerdings: Inhalt und Stil. Wer labert verliert, selbst wenn der Platz dafür ausreicht.

Was sonst noch?

Nur ein paar Stichworte, was mich dieses Jahr bewegt und gefreut hat.

  • dieses Blog: Es wächst langsam, aber es macht Spaß und die Ideen gehen mir nicht aus.
  • Fotografie: Ich habe dieses Jahr viele schöne Fotomotive gehabt, ich habe neue Fotografiefelder erschlossen und Probleme nicht gelöst bekommen. Ich habe zwei Fotoprojekte – die Montagsblumen und zwei Mal Eutin – nicht zu Ende gebracht, will sie aber noch vollenden.
  • Kontakte: Ich freue mich über die neue Zusammenarbeit im und zum Nachrichtengiftschrank von Udo Stiehl. Vielleicht bewirken wir auf Dauer doch etwas.
  • Musik: Ich durfte zum zweiten Mal nach dem Vorjahr Cherubinis Requiem singen und habe mich neben der Musik auch an dessen Sprache erfreut. Und ich habe nach Jahren schmerzender Schultern endlich wieder zur Querflöte gegriffen. Ich kann’s noch, das freut mich.

Nun lasst uns 2014 angehen. Ich wünsche allen Lesern einen guten Rutsch. Wir lesen uns nächstes Jahr wieder.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

2 Kommentare

  • Sigrid

    Liebe Susanne,
    wieder einmal ein wundervoller Text. Und die Zeilen zu @blockempfehlung haben mir wieder einmal gezeigt, dass mein Misstrauen gegenüber manchen selbsternannten Feministinnen doch irgendwie berechtigt ist.

    Dir ebenfalls einen guten Start ins neue Jahr!

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