Missbrauchsopfer Norbert Denef – Hunger nach Gerechtigkeit
Bekanntlich – so ein alter Kalauer – ist das Halbwissen des Journalisten groß wie der Ozean, aber gerade mal 30 Zentimeter tief. Und jeden Tag kommen ein paar Quadratmeter Wissen dazu. Manchmal geht es mir so, dass ich mit einem Thema anfange und plötzlich in einer Geschichte bin, von der ich keine Ahnung hatte. Die mich aber berührt und die einen tiefen Eindruck bei mir hinterlässt. So ist es mir gegangen, als ich mich mit Norbert Denef befasst habe. Er ist seit ein paar Tagen im Hungerstreik und kämpft damit gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Norbert Denef, der Name sagt mir gar nichts. Er steht in einer knappen Mail, die über einen Dritten in die Redaktion kommt. „Ich bin im Hungerstreik“ steht dort, und nicht viel mehr. Ein Spinner? Ein Mann mit einem ernsthaften Anliegen? Das lässt sich nur mit einem Telefonanruf klären. Also rufe ich Norbert Denef an.
Der Mann hat eine Mission. Eine ernst zu nehmende. Er ist eines der bekanntesten deutschen Missbrauchsopfer der katholischen Kirche, hat als erster eine Entschädigung erwirkt und kämpft dafür, dass die Verjährungsfrist für sexualisierte Gewalt aufgehoben wird. Weil er auf der politischen Bühne nicht weiter kommt, ist er in den Hungerstreik getreten. Damit will er die Politik in die Knie zwingen.
All das weiß ich noch nicht, als ich ihn anrufe. Ich will zunächst nur die Lage peilen, kurz prüfen, ob seine Geschichte eine Geschichte für die Zeitung ist. Ich treffe auf einen Mann, der jung klingt am Telefon und eifrig. Ich schätze ihn anhand seiner Stimme auf Mitte 40. Der Mann ist 63. Und er beginnt das Gespräch mit Sätzen, die mich zunächst verärgern. „Wie Sie in meinem Buch in Kapitel sowieso lesen können“ und „Hören Sie sich das Video an, da ist alles drin“. Nein, ich will kein Video ansehen und anhören, ich habe keine Zeit, mal schnell zwischen zwei Anrufen und drei noch zu schreibenden Artikeln ein Buch zu lesen.
Auf meine Aufforderung, mir einfach zu sagen, worum es geht, holt Norbert Denef aus. Er spricht und spricht und spricht. Parallel googele ich seinen Namen, überfliege die Homepage seines Vereins netzwerkB (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt) und mache mir ein Bild. Was ich finde ist ein Leben voller Leid, Hilflosigkeit, aber auch Kraft und Neubeginn. Ja, diese Geschichte ist eine Geschichte. Ich mache mich an die Recherche, telefonierte noch mehrmals mit ihm, frage immer wieder nach. Norbert Denef ist ein Mann, der schnell mal abschweift in die Details einer Jahrzehnte dauernden Geschichte. Ich muss ihn mehrmals wieder einfangen. Muss ihm klar machen, dass die Details nur verwirren und Zeitungsartikel nicht jeden Seitenpfad gehen können.
Außer mit seinem Hungerstreik kämpft Denef vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Verjährung. Seine Beschwerde richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland. Eine Online-Petition soll ihm eine breite Unterstützung bringen.
Dann habe ich die Geschichte von Norbert Denefs Hungerstreik geschrieben. Sie ist am Sonnabend in den Lübecker Nachrichten erschienen.
Warum ich das alles schreibe
„Ein guter Journalist macht sich nicht mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten Sache.“ So lautet das oft zitierte Credo des großen TV-Journalisten Hajo Friedrichs. Ein Glaubenssatz, an den ich mich in meiner täglichen Arbeit halte. Aber hier, auf meinem Blog, schreibe ich privat. Deshalb habe ich hier berichtet, wie ich auf Norbert Denef traf und wie er mich beeindruckt hat. Wir haben uns nie gesehen. Weil ich in Zeitnot war, konnten wir nur telefonieren. Aber selbst am Telefon hat er mich von seiner Sache überzeugt. Hier, ganz privat, kann ich mich mit seiner Sache gemein machen. Norbert Denef steht für ein großes Thema, eine Leidensgeschichte und für einen Kampf, dem man nur Hochachtung entgegenbringen kann.
Ich wünsche Norbert Denef viel Erfolg.
7 Kommentare
Sven Meier
Ich habe deinen Beitrag und den Artikel gelesen. Es ist sehr bewegend, auch das Video.
Sofort sind meine Gedanken wieder bei zwei mir sehr nahe stehenden Menschen, die als Kind missbraucht worden sind. Ich erlebe die Folgen mit, heute noch, zig Jahre später. Und es wird sich nicht ändern.
Heute darüber reden zu können, ist nur die eine Seite der Medaille. Gut wer es kann – wenn vielleicht auch erst zig Jahre später. Die andere Seite ist der Schrei nach Gerechtigkeit. Wie bei Norbert Denef. Egal dabei, wie jedes Missbrauchsopfer für sich „Gerechtigkeit“ definiert.
Wir unterhalten uns immer wieder mal über die Verjährung dieser Straftat. Ich denke das ist ein Thema, was jedes Missbrauchsopfer beschäftigt.
Persönlich ist für mich der sexuelle Missbrauch eines Kindes ein „Mord an der Seele“, auch wenn das juristisch nicht korrekt ist. Analog zur Verjährungsdebatte 1979 wünsche ich mir, dass neben der Verjährungsfrist vom Mord auch die vom sexuellen Missbrauch aufgehoben wird.
Nur warum ist der Verjährungsfrist-§78 StGB bei allen bisher geführten Diskussionen noch nicht geändert worden. Was hält „die Politik“ davon ab? Warum erhält Norbert Denef nicht die Antworten, auf die er einen Anspruch hat? Auf die alle Missbrauchsopfer einen Anspruch haben? Kann es sein, dass „bestimmte Kreise“ kein Interesse an einer Verjährungsfrist-Aufhebung haben und entsprechend ihren Einfluss geltend machen?
Ich ziehe meinen Hut vor Norbert Denef!
Sarah Mohn
Ich bin Betroffene von fam. sat. rituellem Missbrauch in der Kindheit, war von Beginn an Aktive im NetzwerkB als Teammitglied und Artikelschreiberin, als Mitgründerin des Vereins.
Doch aufgrund Norberts Hungerstreik – Aktion werde ich mich, wie viele andere es vor mir schon getan haben, entschieden von seinem Netzwerk distanzieren.
Die Gründe hierfür möchte ich gerne näher erläutern:
Bei aller Hochachtung und Respekt Norberts gegenüber, dass er all die Jahre hindurch sein Ziel nie aus den Augen verloren hast, sich dafür eingesetzt hat, woimmer es ihmmöglich war.
Aber Hungerstreik? Ob er sich damit was Gutes tut, sei dahin gestellt. Ja, ich zweifle sogar daran, ob er damit der Sache an sich was Gutes tust.
Hungerstreik ist in meinen Augen immer auch eine Art Erpressung – die ich selbst nicht befürworten kann. Sicher ist es nach wie vor notwendig, auf Missstände aufmerksam zu machen, die Öffentlichkeit aufzurütteln, aber nicht unbedingt mit einer derart unadäquaten Aktion – die weder für seine Gesundheit, noch für seine Seele (denn damit begibt er sich erneut in eine Opferrolle – er opferst sich auf), noch für das Gesamte (Glaubwürdigkeit, Ernst – genommen – werden usw.) dienlich ist.
Gerade unter uns Betroffenen sollte inzwischen ein allgemeiner Konsens herrschen, dass wir aus der Opferrolle, die wir so mühsam und schmerzlich endlich abgelegt hatten, nie wieder – und schon gar nicht aus freien Stücken heraus zurück gelangen möchten. Egal, unter welchem “Gutmensch – Deckmäntelchen” dies nun verkauft wird.
Und ich bin ebenso entsetzt, dass Betroffene von sex. Gewalt und andere Nichtbetroffene diese Aktion für Gut heißen. Sich selbst opfern – das gesamte Thema “Aufopferung” ist ein IRRSINN – ist es nicht gerade das, was laut und zurecht immer wieder im Bezug der Sekte „Kirche“ angeprangert wird???
Mit dem Hungerstreik begibt sich Norbert – auf die selbe Stufe, will sich “aufopfern”, um ein Ziel zu erreichen. Das nenne ich schlichtweg: Machtmissbrauch!!!
Gefällte erzwungene politische Entscheidungen, die aus einer Erpressertaktik getroffen werden, sind niemals welche – die aus Überzeugung kommen. Und sobald die “Gefahr” (Hungertod) gebannt ist, – wieder revidiert werden.
Wollen wir ernst genommen werden? Oder wollen wir riskieren, dass man uns eines Tages nachsagen wird, dass wir auf kindlichen Niveau stecken geblieben sind??
Es gibt unzählige Betroffene, die aktiv an die Politiker herantreten, um Änderungen zu bewirken. Vieles geschieht im Hintergrund, ohne große Presse aber mit großer Wirkung!!! Und auch das hat seine Berechtigung und ist nicht weniger wert, wie Norberts Öffentlichkeitsarbeit. Beides ist wichtig und unverzichtbar. Soviel dazu!!!
Betroffene, aber offene Worte von einer Betroffenen sex. Gewalt
Sarah Mohn
Pyrolim
Liebe Frau Mohn,
vielen Dank für Ihren langen und ausgewogenen Kommentar. Ich kann gut nachvollziehen, was Sie bewegt. Sicher gibt es verschiedene Methoden, für ein Anliegen zu kämpfen. Das ist vielleicht auch typbedingt: die Extrovertierteren unter uns entschließen sich zu Aktionen wie die von Norbert Denef, andere bevorzugen den leisen Weg und versuchen mit Gesprächen und Argumenten, für ihre Sache einzutreten. Für mich als Außenstehende und nicht Betroffene ändert das aber nichts daran, dass ich den Wunsch nach einer Aufhebung der Verjährungfrist nachvollziehen kann. Vor dem Hintergrund, wie lange Betroffene brauchen, um überhaupt über das Geschehene reden zu können, ist das eine alte Forderung, die Opferverbände für sexuellen Missbrauch schon lange vor dem Bekanntwerden des kirchlichen Missbrauchs aufgestellt haben. Die Wege sind unterschiedlich, aber das Ziel ist richtig.
Liebe Grüße,
Susanne Peyronnet
Sarah Mohn
Ergänzung:
es gab zu Hauf Kritiken gegen diese erpresserische, schädigende Aktion von sehr vielen Betroffenen, aber diese werden dank Norbert Denef nicht freigeschalten. Die Kommentare, die im NetzwerkB dazu zu lesen sind, sind fein säuberlich aussortiert worden – damit sein Bild als Held und Märthyrrer – von allen Betroffenen geliebt und unterstützt – der Öffentlichkeit vorgekaugelt werden kann.
Wir haben seit Bestehen des Rundes Tisches http://www.rundertisch-kindesmissbrauch.de/index.htm bis heute mühsam gekämpft, ernst genommen zu werden, viele Betroffenen – Initiativen arbeiten aktiv direkt gemeinsam mit dem Unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sex. Kindesmissbrauchs zusammen, um Änderungen zu bewirken.
siehe auch: http://beauftragter-missbrauch.de/course/view.php?id=30
Aktionen wie Norberts Hungerstreik untergraben erneut die vielen Bemühungen, die allmählich Früchte tragen.
NetzwerkB ist eine von tausenden Betroffenenvereine, und nicht das Sprachrohr für ALLE Betroffenen, sondern nur für einen minimalen kleinen Personenkreis.
Die Überzahl organisierte sich in seriösen Foren, Gruppen und sind direkt mit den Entscheidungsträgern im konstruktivem, sachlichen regen Austausch.
Soviel dazu:
Sarah Mohn
JaneO.
Norbert Denef hat es mit seiner extrovertierten Art geschafft das Thema sexualisierte Gewalt in der Kindheit in die Medien zu bekommen. Das war gut. Er ist einer der Ersten die sich getraut haben ihr Gesicht und den Echtnamen offen zu zeigen. Das rechne ich ihm hoch an.
Seine Rede vor der SPD im November/Dezember 2011 war gut.
Leider hat er sich von den Schulterklopfern in der SPD anscheinend täuschen lassen.
Mit seinem Hungerstreik versucht er nun wieder Aufmerksamkeit in den Medien zu erwirken.
Für mein Gefühl ist dies der falsche Weg.
JaneO. Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kindheit
Sarah Mohn
Sehr geehrte Frau Peyronnet,
auch ich und alle vernetzen Betroffene, die ich kenne – sind einstimmig gegen Verjährungsfristen bei sex. Gewalt in der Kindheit. Ohne Frage! Viele von ihnen bezeichnen dieses Verbrechen als „Seelenmord“. Auch ich empfand dies sehr sehr lange so.
Aber durch harte Arbeit an mir selbst dank therapeutischer kompetenter Begleitung darf ich heute sagen, dass meine Seele nicht ermordert worden ist, sondern durch dieses jahrelange Verbrechen ist sie erstarrt – lahmgelegt worden.
Dennoch rechtfertigt nicht dieses Verbrechen, das irreperable Schäden in den Genen und im Gehirn Betroffener und lebenslange gesundheitliche sowie auch seelische Schäden verursacht.
Verjährungsfristen müssen abgeschafft werden. Hier gehe ich mit Ihnen und allen Betroffenen konform. Nur die Art, wie sie nun erreicht werden will von Norbert, diese teile ich in keinster Weise. Sie ist kontraproduktiv und wirft uns, die wir durch Überzeugungsarbeit nötige Änderungen bewirken wollen, ennorm zurück. Wir nämlich wollen überzeugen, und nicht erpressen. Hier liegt der Unterschied! Uns wurde allen jahrelange extreme Gewalt angetan, wir dürfen und können nicht mit Gewalt nun Dinge erzwingen, die im Verständnis, in der Auffassung in den Köpfen der Entscheidungsträger noch nicht ganz erfasst und für nötig empfunden worden ist. Hier gilt es – mit wissenschaftlich nachgewiesenen Fakten zu argumentieren, und nicht mit Erpressung.
Und diese Meinung teilt die Mehrzahl der Betroffenen.
Ich kann Norberts Ungeduld durchaus verstehen – nach all den Jahren – in denen er sich für eine Abschaffung eingesetzt hat. Aber den Weg, der er nun einschlägt, kann ich nicht für Gut heißen.
Es gibt endlos viele Themen, die verändert, angepackt werden müssen im Bereich sex. Gewalt an Kindern. Wenn jedesmal hier Betroffene in den Hungerstreik gingen, um ihre Ziele zu erreichen, würden wir sehr schnell nicht mehr für ernst genommen werden. Darin liegt meine Sorge! Und mit Gewalt und Erpressung erreicht man keine langhaltigen Ziele und Änderungen.
Mit freundlichen Grüßen
Sarah Mohn
PS: Danke, dass Sie bereit sind für einen offenen – transparenten und konstruktiven Austausch