erlebt,  Pyrocontra

Übertriebene Rücksicht: Wie viel Watte brauchen Kinder?

Ich habe mich – bis auf einige Kommentare bei mamma-arbeitet.de – nicht weiter an der Debatte beteiligt, ob die Bundesjugendspiele abgeschafft werden sollten. Ich finde, sie gehören abgeschafft, aber dieses Fass will ich hier jetzt nicht aufmachen. Ich will vielmehr eine Geschichte aus einem Dorf in Schleswig-Holstein erzählen, zu der ich nur den Kopf schütteln kann. Es geht um eine Tränen-Vermeidungsstrategie, mit der die Kinder vor Enttäuschungen  geschützt werden sollen.

Hier in Schleswig-Holstein ist es gute Tradition, dass Dörfer einmal im Jahr das sogenannte Kindervogelschießen ausrichten. Keine Angst, da schießen die Kinder nicht auf Vögel, wie mal ein Zugereister schockiert gedacht hat. Sondern die Kinder müssen allerlei Spiele absolvieren. Hinterher bekommen die Sieger Schärpen und Urkunden und jedes Kind ein Geschenk.

Üblich ist es, dass die Organisatoren – meistens ein sogenannter Vogelschießerverein – ein paar Wochen vor dem Fest durchs Dorf gehen, an den Haustüren klingeln und Geld einsammeln. Dabei notieren sie die Namen der Kinder, die mitmachen, damit keines vergessen werde und genug Geschenke da sind. Dann gehen die Organisatoren einkaufen – einmal querbeet, alles, was Kinder mögen. Stets sind es sehr hochwertige Geschenke, Spielsachen, Zelte, Gutscheine. Nach meinem Beobachtungen treffen die Einkäufer den Geschmack der Kinder gut. Wenn dann die Spiele vorbei sind und die Siegerehrung ansteht, dürfen die Sieger zuerst in den Raum, in dem die Geschenke aufgebaut sind. Sie haben die erste Wahl und den ersten Zugriff, dann kommt der Zweitplatzierte, dann der Drittplatzierte, immer so weiter, oft nach Mädchen und Jungen getrennt – wegen der Spiele, damit es gerecht zugeht, nicht wegen der Geschenke.

Dieser erste Zugriff der Sieger führt nun manchmal bei denen, die später kommen, zu Tränen der Enttäuschung, wenn ein begehrtes Geschenk schon weg ist. Also hat sich eine Mutter ausgedacht, beim Geld einsammeln jedes Kind zu fragen, was es sich wünscht, und die Geschenke mit Namensschildern zu versehen. Das passte den anderen nicht, sie haben die Schilder wieder abgerissen. Weil sich am Ende niemand darüber einigen konnte, ob man den Kindern nun die Enttäuschung zumuten solle oder nicht, fiel das ganze Fest aus.

Was für ein Jammer. Die übertriebene Sorge, den Kindern keine Enttäuschung zu bereiten, führte am Ende dazu, dass überhaupt niemand Geschenke bekommt und der ganze Spaß nicht stattfindet. Dabei kommt es bei den Spielen gar nicht nur auf Geschicklichkeit an, sondern immer sind auch Glücksspiele dabei. Meistens ist es eine gute Mischung, die auch unsportlichen Kindern die Chance auf einen der vorderen Plätze gibt.

Abgesehen davon: Wie weit sind wir gekommen, dass wir bei jeder Gelegenheit, und sei es nur bei einem Spiel, darüber nachdenken, wie wir bloß niemandem eine Enttäuschung bereiten? Ist es angemessen, im Vorwege alles so zu regeln, dass keine Tränen fließen? Müssen wir unsere Kinder dermaßen in Watte packen und tun wir ihnen damit einen Gefallen? Oder müssen Kinder wie Erwachsene erfahren, dass nicht immer alles glatt geht im Leben? Ich bin für die Abschaffung der Bundesjugendspiele, weil ich finde, die Schule muss Kinder nicht zu etwas zwingen, bei dem sie sich vor der Klasse blamieren. Aber ich bin für offenes Vogelschießen, weil es ein lustiger Wettbewerb ist, bei dem es am Ende etwas zu gewinnen gibt. Und wenn das Geschenk vielleicht nicht auf den ersten Blick passt, wird es vielleicht später doch noch geschätzt oder sogar heiß geliebt. Unsere Tochter hat jedenfalls von dem vor Jahren beim Vogelschießen gewonnenen Zelt – für Platz zehn oder zwölf – bis heute etwas und nutzt es gern und oft. Außerdem: Der kleine Kummer über ein verpasstes Geschenk geht doch schnell vorbei.

Räumen wir unseren Kindern doch nicht alle Steine aus dem Weg. Vor allem aber: Wir Erwachsenen sollten doch so kompromissbereit sein, dass am Ende nicht das ganze Kinderfest über unsere Streitereien ausfällt. Davon haben die Kinder nämlich gar nichts. Nicht mal ein ungeliebtes Geschenk.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

2 Kommentare

  • Margrit

    Ich kann deinen Text unterschreiben. Vieles beginnt schon daheim im kleinen: Die Kinder werden für jede Kritzelei gelobt, womöglich wird der krumme schwarze Strich auch noch gerahmt. Jedes Kinkerlitzen führt bei etlichen Eltern unweigerlich zu Bravo-Bravo-Rufen und/oder gar zu Belohnungen. Kinder lernen oft nicht mehr, dass mal etwas nicht gut und schön geraten ist. Oder dass man auch mal eine Enttäuschung verkraften muss.
    Und schade, dass es hierzlande kein offenes Vogelschiessen gibt. Dass dabei auch noch jedes Kind einen Preis erhält, finde ich Klasse. Aber wahrscheinlich gehört bei einigen auch Dankbarkeit nicht mehr ins Vokabular.

  • Mario

    Der Text trifft es sehr gut. Bei den Bundesjugendspielen muss ich jedoch dagegen halten, dass die Schule die Kinder ja auch zu Mathematik „zwingt“, und ein schwacher Schüler hier auch Gefahr läuft, sich zu blamieren.

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