Überempfindlich: Lernen wir, die Zähne zusammenzubeißen

Manchmal denke ich, es ist eine Frage des Alters: Ich verstehe nicht, warum viele Menschen so empfindlich sind. Überempfindlich. Jede Kleinigkeit, die ein bisschen unangenehm ist oder sein könnte, wird groß aufgeblasen. Nichts dagegen, sensibel zu sein. Aber müssen die mich damit dauern behelligen?

Schönstes Beispiel war vor Kurzem die Zeitumstellung auf die Winterzeit, also die Normalzeit. Seit Jahren und Jahrzehnten wird darüber geklagt. Dieses Mal war es besonders schlimm, auch, weil die Medien das Thema mal wieder groß aufgegriffen haben. Da wurden Nachrichtenberichte gesendet, in denen Mediziner und Psychologen darüber sprachen, wie belastend die eine Stunde Umstellung sei. Sowohl für den Körper als auch für Psyche.

Wenn eine Stunde schlimmer ist als viele Stunden

Wie bitte? Menschen, die ohne mit der Wimper zu zucken den Jetlag im Thailand-Urlaub wegstecken, beschweren sich über eine Stunde Zeitverschiebung? Sollen gar psychische Auswirkungen erleiden. Wie wär’s mal, sich selbst einfach nicht so ernst nehmen. Auf Kleinigkeiten nicht überempfindlich zu reagieren. Nach zwei Tagen ist beim Thema Zeitumstellung eh alles vergessen.

Ich komme aus einer großen Familie, bin mit drei weiteren Geschwistern aufgewachsen. Da lernt man zwangsläufig, sich selbst mal zurückzunehmen und nicht immer die eigenen Befindlichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Das erdet ungemein. Abgesehen davon bin ich eine große Befürworterin des Wechsels von Sommer- und Winterzeit (Normalzeit). Weil ich eine Nachteule bin und die wunderbaren langen und hellen Sommerabende liebe.

Übertriebene Angst vor Zigarettenrauch

Anderes Beispiel: Ich gehe jeden Mittwochabend mit ein paar Leuten zum Griechen, ein bisschen etwas essen und einen Ouzu trinken. Vor der Tür des Lokals stehen manchmal zwei oder drei Raucher. Das kann eine der Frauen in unserer kleinen Gruppe nicht ertragen. Nicht, dass sie dort vorbeikommt. Nicht, dass sie daneben stehen oder sitzen würde. Nein, sie findet, drinnen im Lokal stinke es zu doll nach Rauch, als dass sie da sein wolle. Obwohl dort niemand raucht.

Sie findet, der Rauch ziehe viel zu stark nach innen, wenn die Tür aufgemacht wird. Deshalb war sie schon ein paar Mal nahe daran, nicht mit uns essen zu gehen, das Treffen platzen zu lassen. Weil: Ich habe keine Lust, wegen der extremen Rauchbelastung heute Abend noch mal zu duschen, und wenn ich und mein Mann nicht duschen, muss ich morgen wegen des Gestanks die Betten frisch beziehen undalle Klamotten in die Waschmaschine werfen. Wie bitte? Sorry, aber man kann auch überempfindlich reagieren. Anders gesagt: Sie sollte mal auf dem Land leben, wenn hier Gülle gefahren wird.

Die Karriere der Triggerwarnungen

Aber zurück zu denen, die mir zu sensibel und zu rechthaberisch sind. Mittlerweile ist es sehr verbreitet, dass Menschen vor Zumutungen und sogenannten Triggern geschützt werden müssen. Das mag in Einzelfällen so sein. Aber alleine die Triggerwarnungen nehmen mittlerweile überhand. Gerne auch mit CN abgekürzt, was die Hälfte derer, die eine Warnung benötigen, wahrscheinlich nicht verstehen.

Eine Triggerwarnung vor Texten zu Selbstmord oder Vergewaltigung kann ich gut nachvollziehen. Aber vor was wird da nicht alles noch gewarnt: vor Beauty (ernsthaft?), vor Spinnen, vor ableistischen Wörtern (N-Wort, M-Wort, Z-Wort), ja, sogar vor Labskaus und Rosenkohl (wohl eher satirische Triggerwarnung). Da hilft nur mehr Resilienz, auch so eines der neuen Wörter, die die Runde machen. Ich kenne das als Widerstandsfähigkeit. Die kann man übrigens trainieren.

Mehr Widerstandskraft für die Empfindlichen

Die meisten Menschen haben in unserer Gesellschaft nicht viel auszustehen. Natürlich hat es nicht jeder leicht im Leben, müssen wir Herausforderungen meistern, uns unangenehmen Situationen stellen. Für die meisten von uns sind sie lösbar. Vor allem sollten wir nicht die kleinen Probleme aufblasen, sondern die großen ernst nehmen. Oder anders ausgedrückt: nicht überempfindlich sein, sondern einfach mal die Zähne zusammenbeißen. Zumindest dann, wenn es nicht um Leib oder Leben geht.

Ein Kommentar

  1. Ich sehe die Entwicklung ebenfalls kritisch. Allerdings muss ich zugeben, selbst dazuzugehören. Mich bringt vieles so schnell in Rage, dass meine Frau sogar fand, ich hätte mich verändert. Ob das mit dem Ruhestand zu tun hat? Gestern las ich in der NZZ einen interessanten Artikel über die zunehmenden Gewalttätigkeiten (mit Messern) unter jungen Schweizern. Heute scheint es zur „Grundausstattung“ vieler Leute zu gehören, sich mit Messern oder Schlagringen auf die „Piste“ zu begeben. Wenn einem dann einer blöd kommt, gehts gleich zur Sache. Die Gewaltbereitschaft, also die Eskalation, die vielleicht mit der gestiegene Bereitschaft, sich triggern zu lassen, verbunden ist, verwirrt mich. Ich hatte angenommen (muss ich zu meiner Schande gestehen), dass vor allem die hohe Zahl junger Migranten dabei in den Blick zu nehmen wären. 91 % der Täter sind junge Männer, 27 % solche mit migrantischem Hintergrund. Meine Annahme ist also unzutreffend. Es gibt – warum verstehe ich nicht – eine größere Gewaltbereitschaft. In meiner Jugend gabs natürlich Schlägereien. Ich habe mich immer rausgehalten. Ich wurde sogar einmal Zeuge einer Messerstecherei, als ich gerade mit Freunden aus einem Kino kam. Das hat mich wahnsinnig schockiert. Ich wurde dazu erzogen, mich zurückzunehmen. Vielleicht hatte das nicht nur positive Auswirkungen. Aber meine Beziehung zur Gewalt muss das nachhaltig geprägt haben. So schnell ich mich aufrege und laut meine Kommentare gebe, einen Menschen würde ich nie angreifen. Auch nicht, wenn ich richtig wütend bin.

    Ich denke, die allseits beklagte, mangelnde Debattenkultur zeigt, welche Nachteile jener Individualismus (Egoismus?) uns beschert hat, den unsere Gesellschaft hervorgebracht hat. Viele können oder wollen nicht zuhören und geben nur was auf ihre eigene Meinung. Sie sind schnell sauer, wenn etwas thematisiert wird, was ihrem Standpunkt zuwiderläuft.

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