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Nachhaltigkeit nachhaltig falsch verwendet

Seit einigen Jahren hat ein Wort aus der Forstwirtschaft Karriere gemacht: Nachhaltigkeit. Heutzutage wird fast alles nachhaltig genannt, obwohl kaum etwas wirklich nachhaltig ist. Abgesehen davon, dass das Wort unschön ist, wird es meistens falsch verwendet.

Über Nachhaltigkeit und ihre Bedeutung hat mir mein Vater Christian Frege – Diplom-Landwirt und Waldbesitzer – einen Gastartikel zur Verfügung gestellt.

Ist Nachhaltigkeit noch zeitgemäß?

Der Begriff  „Nachhaltigkeit“ ist positiv belegt, heute in aller Munde und wird sträflich missbraucht. Entstanden, Jahrzehnte benutzt und immer wieder neu definiert ist er in der Forstwirtschaft.

Übertragen auf verschiedene andere Gebiete, ist er fehl am Platze, zum Beispiel, wenn man liest: „nachhaltige Städtebaupolitik“ oder „nachhaltige Sportstättenentwicklungsplanung“. Ralf Franz Tegeler von der Hessischen Landesanstalt für Waldforschung schreibt: „Die weite Übertragung dieses Prinzips forstlichen Handelns auf andere Bereiche, wie zum Beispiel Bergbau oder Landwirtschaft, birgt andererseits die Gefahr in sich, dass sein begrifflicher Inhalt zunehmend verwischt wird. Nur Systeme, die sich selbst zu erneuern, nachzuwachsen vermögen, lassen sich nachhaltig nutzen.

Auf der Konferenz von Rio 1992 wurde die Agenda 21 als weitweites Handlungsprogramm für eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert beschlossen, mit folgendem Wortlaut: „Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu gefährden, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können.“ Einfacher ausgedrückt bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir das, was wir von unseren Vätern übernommen haben, an unsere Kinder ohne Qualitäts- und Quantitätsverluste weitervererben.

Das aber trifft in der Landwirtschaft keinesfalls zu. Innerhalb von zwei Genreationen hat sich ein gewaltiger Wandel vollzogen: Die kleinstrukturierte vielseitige Felderwirtschaft mit Rainen ist verschwunden. Unzählige Kraut- und Insektenarten sind ausgerottet. Durch Schlupf von Schlepperreifen bei zu nassem Boden sind Verdichtungsschichten entstanden, auf denen sich Wasser staut, oberflächlich abfließt und Feinerde wegspült, so dass statt Hochwasser nur noch Schlammbrühe fließt. Trotz steigender Erträge ist die Bodenfruchtbarkeit auf lange Sicht in Gefahr. Durch Verbrennung von fossilen Dieselölen und Ammoniak aus neuartigen Tierhaltungen hat die Landwirtschaft Anteil an der Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen. Vieles ist nicht mehr wie früher, aber auch nicht mehr zurückzudrehen. Eine wirklich nachhaltige Landwirtschaft ist undenkbar.

Wie sieht es in der Forstwirtschaft aus? Ursprünglich hieß Nachhaltigkeit, nicht mehr Holzmasse zu ernten, als nachwächst, wobei niemand generell festgelegt hat, für welche Flächengröße und welchen Zeitraum das gelten soll. Auf einer kleinen Fläche wäre also Raubbau durchaus erlaubt, wenn nur genug Ausgleichsfläche vorhanden ist. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass man das ernten muss, was Kalamitäten (Orkan, Borkenkäfer) erzwingen.

Forstwissenschaftler, u.a. Schanz, Speidel und Oesten, haben zu dem Begriff der Nachhaltigkeit gearbeitet und geschrieben. Hauptgedanken dabei sind das Bewahren, Erhalten, Fortbestand, Stetigkeit, Gleichmaß, Normalwald. Viele Forstleute meinen, es sei gut, wenn alles so bleibt, wie es ist. Es erfreut sie, wenn unter einem Buchen-Altholz eine üppige reine Buchen-Naturverjüngung aufkommt. Das aber ist Stillstand, und Stillstand ist Rückgang.

Was heute dringend notwendig ist, sind vorhaltende Vorwärtsstrategien. So weist Oesten darauf hin, dass Fortbestand durch Nachhaltigkeit in herkömmlichem Sinn überhaupt nicht mehr gewährleistet ist, weil neue Faktoren einwirken wie Schadstoffeinträge, Klimaveränderungen, Überforderung durch Freizeitgesellschaft, überhöhte Wildbestände usw. Niemand weiß, ob die Baumarten, die sich heute behaupten, in 30 Jahren noch optimal sind oder überhaupt durchhalten.

So scheint eine der wichtigsten Vorwärtsstrategien zu sein, Artenvielfalt durch Pflanzung mehrerer Begleitbaumarten und deren Schutz vor Wild zu schaffen. Es ist erschrecken, wie stark die Pflanzung zurückgegangen ist, während doch Waldentwicklungsprogramme den Umbau von Nadelwäldern zu Misch- und Laubwäldern vorschreiben. In den meisten Forsten stellt sich Artenvielfalt nicht von selbst ein, auch bei noch so viel Geduld. Als weitere Vorwärtsstragetie ist die Strukturvielfalt anzustreben: Ungleichaltrigkeit, Mischungschema horstweise und reihenweise und einzelbaumweise nebeneinander, kleine Lichtungen, kleine Gatter, Waldränder mit vielen Gehölzarten, Sonderbiotope (Gewässer, Böschungen, Felsen). All das sollte aktiv entwickelt und über das Maß der Nachhaltigkeit hinaus, neue Zukunft wagend, praktiziert werden, damit wir nicht eines Tages durch äußere Zwänge verursacht feststellen müssen, dass Nachhaltigkeit (Bewahren des Alten) nicht genügt. Oesten ruft auf zu Verantwortung, Wachsamkeit und Vorsorge angesichts von Ungewissheit und Risiko.

Der Nachhaltigkeit widmet sich ein ganzes Info-Portal:

http://www.nachhaltigkeit.org/

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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