Gerichtsreporter – ein Job mit Tücken
Heute hat in München der NSU-Prozess begonnen, eines der wahrscheinlich größten und wichtigsten Verfahren in der deutschen Nachkriegsgeschichte. So wurde der Prozess zumindest in den Nachrichten heute überall tituliert. Jeder weiß um die Debatte im Vorfeld, bei der es um die Vergabe der Presseplätze ging. Für die Gerichtsreporter, deren Medien vom Losglück begünstigt waren, begann heute ihr aufreibender Job. Der ist aber auch in normalen Verfahren anstrengend genug.
Eines möchte ich vorweg schicken. Es geht in München darum, Täterschaft festzustellen. Es geht darum, Morde aufzuklären, den Hinterbliebenen ein Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es geht vielleicht auch darum, das wird sich erst noch zeigen, rechtsradikale Strukturen aufzuzeigen und möglichst transparent zu machen. Um das Leid der Opfer geht es in jedem Prozess, mal mehr, mal weniger, aber letztlich ist es Sache des Gerichtes, Schuld festzustellen und über sie und den Angeklagten ein angemessenes Urteil zu sprechen. Oder einen Freispruch. Es geht nicht um journalistische Nabelschau, auch wenn in München bis jetzt dieser Eindruck entstanden ist.
Das alles vergesse ich nicht. Dennoch möchte ich hier einmal den Blick auf die Arbeit der Gerichtsreporter lenken und eigene Beobachtungen aus vielen Gerichtssälen zusammentragen. Einfach weil ich das Metier kenne. Ich habe es selbst jahrelang gemacht, habe große, größte und kleine Prozesse verfolgt an diversen Gerichtsstandorten. Ich habe die Schwierigkeiten dieser Art der Berichterstattung kennengelernt, die Probleme, über oft sehr komplexe Sachverhalte zu schreiben, schreckliche Details anzudeuten, ohne sie konkret auszusprechen, allen Prozessbeteiligten gerecht zu werden. Ein bisschen davon will ich hier erzählen.
Äußerlichkeiten
„Die sitzt sich den ganzen Tag im Gericht den Hintern platt und schreibt dann gerade mal einen Text.“ Ja, auch solche Sprüche müssen sich Gerichtsreporter von ihren Kollegen in den Redaktionen manchmal anhören. Das bringt eine Sache auf den Punkt, die wohl alle Kollegen kennen, die aus Gerichtssälen berichten. So ein Prozesstag ist eine tagesfüllende Angelegenheit. Die meisten Prozesse beginnen in Deutschland um 9 Uhr – für Journalisten eine verdammt frühe Zeit. Ein von mir sehr geschätzter, inzwischen pensionierter Vorsitzender Richter einer Schwurgerichtskammer ist Frühaufsteher, seine Prozesse begannen immer um 8.30 Uhr. Da er als Vorsitzender der 1. Großen Strafkammer die spektakulären Fälle hatte, galt es, möglichst eine halbe Stunde früher da zu sein, schon um Schulklassen zuvor zu kommen, die gern mal die wenigen Plätze im Saal blockieren. Dass der Richter auch noch sehr ausdauernd war und gerne mal bis weit in den Nachmittag hinein verhandelte, machte solche Tage nicht leichter.
Noch eine Äußerlichkeit, aber eine sehr anstrengende: Im Gerichtssaal sitzen die Zeugen mit dem Rücken zu den Zuhörern. Das macht es schwer, sie zu verstehen. Wenn sie dann noch nuscheln, verängstigt sind oder einfach über eine leise Stimme verfügen, ist es fast unmöglich, ihnen von den Zuhörerplätzen aus zu folgen. Sehr anstrengend. Es soll ja hinterher nichts falsch in der Zeitung stehen. Noch problematischer wird die Sache, wenn auch noch simultan gedolmetscht werden muss. Ist der Dolmetscher nicht sehr erfahren und versteht sein Handwerk nicht oder hat zu wenig Routine, wird es sehr schwer, den Aussagen der Zeugen zu folgen. Gleiches gilt auch für ausländische Angeklagte, allerdings sitzen hier Sprecher und Dolmetscher etwas günstiger zu den Zuschauerreihen.
Der Ablauf
Üblicherweise beginnt der Prozess damit, dass die Personalien des Angeklagten festgestellt werden. Wohnort, Alter, Beruf, Familienstand, Kinder, Nettoeinkommen. Schon da herrscht wieder Nuschelalarm. Es gab mal einen Angeklagten, bei dem war partout nicht zu verstehen, ob er nun Maurer oder Maler von Beruf ist. Nachfragen geht schlecht im Gerichtssaal. Dann verliest der Staatsanwalt die Anklage. Das kann schnell gehen, wenn es um eine Tat, etwa einen Mord geht. Das kann aber auch Stunden dauern. Ich habe mal einen Staatsanwalt 456 Fälle von Betrug im Internet vortragen hören. Der Angeklagte hatte echten Belugakaviar verkauft – der jedoch niemals einen Belugastör von innen gesehen hatte. Jeder einzelne Fall musste in der Anklage mit Datum, Menge, Geschädigtem, Preis etc. vorgetragen werden. Jeder einzelne Fall! Der arme Staatsanwalt. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, aber es dürften weit über zwei Stunden gewesen sein. Wie gut, dass wir Journalisten uns zwischendurch in die Gerichtskantine zurückziehen konnten.
Wie lang auch immer die Anklageverlesung dauert, danach spricht der Angeklagte. Wenn er spricht. Bei Angeklagten und wenig aussagewilligen Zeugen – ja, auch das gibt es, dann kommen sie meistens aus dem Umfeld des Angeklagten – kommen eigentlich immer wieder dieselben Sätze vor. „Das weiß ich nicht mehr.“ „Herr Richter, das ist schon so lange her.“ Oder auch: „Daran kann ich mich jetzt wirklich nicht mehr erinnern.“ So eine Bluttat oder ein dicker Drogenschmuggel oder ein Raub mit Waffengewalt ist ja auch eine ganz alltägliche Sache, da kann man schon mal einiges vergessen. Oft sitzt der journalistische Beobachter innerlich kopfschüttelnd da – eine Regung zeigt er nicht.
Schlimme und ganz schlimme Dinge
Im Gerichtsprozess kommt alles zur Sprache. Vieles davon öffentlich. Nur in Ausnahmefällen können Richter für bestimmte Aussagen den Ausschluss der Öffentlichkeit anordnen, oft auf Antrag. Der Angeklagte genießt dieses Recht im Allgemeinen nicht. Drückt er sich um peinliche oder schreckliche Details, hakt der Richter immer wieder nach. Und da kommen Dinge ans Licht, die will der Zuhörer gar nicht wissen. Und hört dennoch fasziniert zu. Es ist die Faszination des Schrecklichen. Dessen, was Menschen anderen Menschen antun können. Intimes, Brutales, Schmutziges, Unglaubliches. Martyrien werden bis ins kleinste Details ausgebreitet, Kripobeamte der Spurensicherung oder Gerichtsmediziner sezieren jede Tat bis ins Kleinste.
Die besondere Sprache
Gerichte sind nicht gerade Horte großen sprachlichen Könnens. Das liegt in der Natur der Sache, jedes Wort will gewogen sein. Ein paar Beispiele gefällig? Dinge werden in Augenschein genommen, selbst dann, wenn man sie nicht sehen, sondern nur hören kann. „Wir wollen dieses Telefongespräch in Augenschein nehmen“, ist ein von mir bereits mehrfach an anderer Stelle zitierter Satz. Wie ich gerade gelernt habe, hat „in Augenschein nehmen“ eine juristische Dimension. Gerichtsmediziner sprechen auch gern von „blutähnlichen Anhaftungen“. Dass es wirklich Blut ist, musste erst die genauere Analyse erweisen, das kann der Gerichtsmediziner nicht einfach so behaupten. Anhaftungen ist sowieso ein Lieblingswort von allen, die mit Verbrechen und Justiz zu tun haben. Und dann ist da noch die sternförmige Hauteröffnung. Das ist, in normales Deutsch übersetzt, die Austrittswunde einer Kugel. Gerichtssprache ist eben sehr speziell. Übrigens verrät so mancher Angeklagte allein durch seine Sprache, dass er mit dem Delikt, das ihm vorgeworfen wird, durchaus etwas zu tun hat. Wenn jemand sagt, er habe nie Drogen konsumiert, hat er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genau das getan. Unbescholtene Menschen würden sagen, sie hätten nie Drogen genommen. „Drogen konsumieren“ – das ist Polizeideutsch.
Die Richter
Jeder Richter ist auch Mensch. Und jeder hat eine andere Persönlichkeit, die sich im Laufe der Jahre immer mehr herauskristallisiert. Ich habe wunderbare Richter kennengelernt und andere, die ich am liebsten geschüttelt hätte. Da ist zum einen die Prozessführung. Nichts ist schlimmer, als wenn sich ein Richter das Heft aus der Hand nehmen lässt. Wenn er keine Linie findet, sich selbst dauernd verhaspelt, den Prozessbeteiligten die allzulange Leine lässt. Da sind mir doch die lieber, die sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen und die auch mal lauter werden. Oder die, die immer freundlich sind, bis der Angeklagte denkt, was für ein verständnisvoller Mensch in der Robe dort sitzt. Bis zum Urteil: Dann wird Klartext geredet, manchmal sehr zu Überraschung des Angeklagten.
Schreiben, schreiben, schreiben
Das alles hört sich der schreibende Journalist über Stunden an. Es gibt übrigens nur schreibende Journalisten in Strafprozessen, Tonaufnahmen oder das Mitschneiden des Gesagten sind streng verboten. Jeder Kollege, ob Hörfunk, Fernsehen oder Zeitung, schreibt eifrig mit, was gesagt wird. Erstens, weil er nicht weiß, was noch kommt und ob er das, was er gerade hört, für seinen Artikel braucht, und zweitens, damit er hinterher alles richtig wiedergeben kann. Da kommen schnell Seiten und Seiten zusammen. Ich habe an langen Verhandlungstagen schon mal zwei Stenoblocks vorderseitig und rückseitig vollgeschrieben. Es hilft übrigens hinterher sehr, wenn man herausragende Zitate oder besonders wichtige Fakten schon während des Mitschreibens markiert.
Niederschreiben
Irgendwann kommt nämlich der erlösende Moment, wenn Richter, Staatsanwalt und Verteidiger ihre Akten zusammenpacken, der Angeklagte in seine Zelle zurückgebracht wird und sich der Journalist auf den Weg in sein Büro macht. Froh, zumindest den unbequemen Stühlen in den Zuhörerreihen entronnen zu sein. Es ist kein Spaß, stundenlang mit dem Block auf den Knien mitzuschreiben. Während nun alle anderen in den Feierabend gehen, setzt der Gerichtsreporter sich hin und versucht, den Wust an Informationen und Eindrücken vom Tag lesbar, strukturiert und verständlich niederzuschreiben. Der Kopf brummt von dem Gehörten, das Durcheinander ist groß, was muss rein in den Artikel, was kann draußen bleiben, was braucht es, damit der Leser einen Eindruck von dem Verfahren und von dem Angeklagten bekommt? Die Zeit drängt, der Nachmittag ist schon weit fortgeschritten und der Kollege sagt: „Na, den ganzen Tag den Hintern im Gericht plattgesessen?
Der NSU-Prozess ist heute schnell zu Ende gegangen. Die Kollegen dort werden im Verlauf des Prozesse aber noch vieles von dem erleben, was auch in anderen Prozessen vorkommt – ob vor der Schwurgerichtskammer oder im Amtsgericht.