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Chemnitz und die angebliche Angst

Ich wundere mich sehr. Ich sehe mit zunehmender Irritation, was in Chemnitz vorgeht. Ich lese viel darüber. Und wundere mich noch mehr. Da ist von Ängsten die Rede. Doch Angst ist nicht gleich Angst. Etwas, das mich ängstigt, wird mit einer Angst begründet, die ich nicht empfinde.

Nach den ersten Demonstrationen der Rechten, ich nenne sie mal ganz allgemein so, ist das Mitmarschieren so vieler damit begründet worden, sie hätten Sorgen und Ängste. „Sobald die Dämmerung einsetzt, trauen wir uns nicht raus aus dem Haus“, sagt eine Frau. Eine andere ergänzt: „Gehen Sie mal abends raus auf die Straße, dann sehen Sie was passiert.“ Alles Ängste, die durch Sprüche von „Messer-Migration“ und ähnlichen populistischen Ausdrücken noch geschürt werden.

Was passiert denn in Wirklichkeit? Hinter jeder Hausecke springt ein Ausländer hervor und greift Leute an? Horden von Afghanen oder Irakern ziehen marodierend durch die Städte? Frauen sind ohne Begleitung ihres Lebens nicht mehr sicher? Überall wird geklaut, gegrabbelt, getreten, gar zugestochen? Wie bitte? Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Straftaten ist auf einem niedrigeren Stand als seit Jahren. So sicher wie jetzt war Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch das Gefühl ist ein ganz anderes. Wie es dazu kommt und was die Baader-Meinhof-Bande damit zu tun hat, hat Volker König schön herausgearbeitet.

Im Nachgang zu den Vorfällen in Chemnitz wurde dazu aufgerufen, die Besorgten endlich ernst zu nehmen. Die, die mit den Nazis mitmarschiert seien, obwohl sie doch gar keine Nazis seien. Die, die einfach nur Angst haben vor dem, was die Flüchtlinge an Unsicherheit und Kriminalität in die Städte gebracht haben. Was haben sie aber gebracht? Gar nichts.

Jeden morgen und jeden Abend bin ich zu Fuß in der Stadt unterwegs. Mal im Hellen, mal im Dunkeln. Ich fühle mich sicher. Ich fühle mich nicht verfolgt, angestarrt oder gar angegriffen. Da ist niemand. Alles ist so friedlich, wie es immer war. Das Städtchen liegt ruhig da, die Obdachlosen mit ihren Hunden lagern wie immer auf und an ihrer Lieblingsbank. Wie immer begrüße ich sie mit einem freundlichen „Moin“, wir kennen uns schon lange vom Sehen.

Auf dem Weg durch den Park begegne ich Leuten, die ihre Hunde ausführen. Ich begegne einer Familie, Vater, Mutter mit Kopftuch, Kinder. Von hinten kommen zwei Flüchtlinge auf Fahrrädern angefahren. Sie weichen rechtzeitig aus. Im Supermarkt hält mir jemand die Tür auf. Ein schwarzhaariger Mann. Flüchtling? Alteingesessener? Egal, ich verschwende keinen Gedanken daran.

Zugegeben, ich lebe in einer ländlichen Gegend mit Kleinstädten und Dörfern. Ich bin aber auch oft in Großstädten. Da ist es nicht viel anders. Das dürfte auch für Chemnitz gelten. Seit 2015 hat sich in meinem Leben so gut wie nichts verändert. Mir ist finanziell nichts weggenommen worden. Ich vermisse nichts, was ich vorher hatte. Ich habe keine Nachteile dadurch, dass so viele Menschen flüchten mussten und hier ein sichereres Leben gefunden haben.

Doch, es hat sich etwas verändert. Es ist die Angst hinzu gekommen. Nicht die Angst vor Fremden, nicht die Angst vor Kriminalität. Ich will gar nicht verhehlen, dass auch Flüchtlinge Straftaten begehen, das weiß jeder. Aber es ist eben nicht so, dass sie alle mit dem Messer quer zwischen den Zähnen durch die Gegend laufen.

Was mir Angst macht, sind die, die die Angst instrumentalisieren. Die denen nachlaufen, die die Ängste schüren. Die immer und immer wieder verbal in dieselbe Kerbe hauen und damit die Menschlichkeit, die Empathie in unserer Gesellschaft aushöhlen. Schon als die Flüchtlinge kamen und die Willkommenskultur blühte, beschlich mich die Angst, dass dieses weltoffene Gefühl kippen könnte. Ich vermochte mir nicht mal im Ansatz vorzustellen, wie dieses Kippen aussehen könnte. Dass es unsere Demokratie auf den Prüfstand stellen würde.

Mit ist Angst und Bange, wenn ich sehe, wie der Mob in Chemnitz auftritt. Aber noch viel mehr fürchte ich mich vor dem, wie unsere Politiker darauf reagieren. Wie sie immer neues Öl ins Feuer gießen. Wo ist die Stimme der Vernunft, der Mäßigung?

Je mehr über Zuwanderung und Flüchtlinge geredet wird, desto größer werden die Sorgen. Die Sorgen ernst nehmen zu wollen, die man selbst erst geschürt hat, scheint eine beliebte politische Volte zu sein. Wer aber mal sein eigenes Leben betrachtet, unabhängig von seinen Ängsten, wird feststellen, dass sich gar nicht viel geändert hat. Nehmen wir das endlich mal zur Kenntnis.

Und schließlich: Wer anderen seinen nackten Hintern entgegenstreckt, wie bei den Chemnitzer Nazi-Demonstrationen, dessen Sorgen muss niemand ernst nehmen.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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