Buchsouvenir: Kunstgeschichte mit Lücken

Es war einer der besonderen Momente meines Lebens. Nie zuvor und nie danach habe ich so viel Geld für ein Buch ausgegeben. Nicht nur in absoluten Summen, sondern auch im Verhältnis zum Einkommen. 98 D-Mark, das sind etwa 50 Euro, habe ich am 13. November 1975 auf den Verkaufstresen der Buchhandlung Pieper in Bad Gandersheim gelegt. Dafür habe ich 2,7 Kilogramm Kunstgeschichte bekommen.

Die Buchhandlung gibt es heute noch. Das Buch ebenfalls, es steht, mittlerweile ohne Schutzumschlag, in meinem Bücherregal. Die Quittung liegt zwischen den Seiten, handschriftlich ausgefüllt und gestempelt. Unten ist vermerkt, dass sich der Preis von 98 D-Mark einschließlich fünf Prozent Mehrwertsteuer versteht.

Stolz auf die Kunstgeschichte

Wie stolz habe ich mein Erspartes in der Buchhandlung abgegeben und bin mit der „Großen Kunstgeschichte der Welt“ von Gina Pischel nach Hause gegangen. Es war mein Konfirmationsgeld und ein bisschen zusammengekratztes Geld dazu, das ich damals ausgegeben habe. Ich interessierte mich schon sehr für Kunst, habe später Kunstgeschichte studiert. Wohl selten in meinem Leben habe ich mich so über einen Kauf gefreut. Ich war 15 Jahre alt. Ich glaube sogar mich erinnern zu können, dass das Buch zunächst bestellt werden musste und ich hibbelig ein paar Tage lang darauf warten musste.

Ich habe die Große Kunstgeschichte in Ehren gehalten und gehütet wie einen Schatz. Vor allem aber habe ich schnell bemerkt, dass sie Lücken hat. Ärgerliche Lücken. Auf den Seiten 374/375, 378/379 und 382/383 fehlt der Text. Die Seiten zeigen nur die Bilder. Was für eine Enttäuschung. Doch ich habe nichts gesagt, war nicht wieder in der Buchhandlung, um den Fehler zu monieren und ein tadelloses Exemplar zu verlangen. Mir fehlte der Mut, irgendjemandem davon zu erzählen. Ich war einfach zu schüchtern.

Die Renaissance muss stellenweise ohne Text auskommen.

Die Kunstgeschichte blieb da, wo sie heute noch ist: in meinem Bücherschatz. Ich habe sie so oft zur Hand genommen, weniger, um etwas bestimmtes darin nachzulesen, sondern um sie durchzublättern. Hier und da hängen zu bleiben, ein bisschen zu lesen, dann weiter zu blättern. Die Autorin hat ihren Überblick nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch gegliedert. Sie ist Italienerin, vielleicht kommen die Deutschen deshalb bei ihr nicht besonders gut weg. So schreibt sie über die deutsche Gotik: „Erst spät und zögernd nimmt Deutschland die Gotik aus Frankreich an. Der romanische Baustil entspricht so dem deutschen Empfinden und die romanische Tradition ist so gefestigt, daß der Übergang sich langsam und vorsichtig vollzieht.“

Altertümliche Sprache

Wie nah der Übersetzer und Bearbeiter der deutschen Ausgabe, Wilhelm Meyer-Voigtländer, am Originaltext geblieben ist, ist unklar. Die Sprache mutet mitunter altertümlich an, etwa wenn es heißt: „Zerrissen von Hungersnöten unvorstellbaren Ausmaßes, verkamen die Menschen in Frankreich und Deutschland.“ Erst in „der Ruhe genügsamen Schaffens“ habe der Mensch voller Hingebung und Dankbarkeit große Kirchenbauten errichten können.

Der heutige Leser zuckt bei einem anderen Thema unwillkürlich zusammen. Als es ins 20. Jahrhundert geht, widmet sich ein Kapitel dem „Einfluss der Negerkunst auf Europa“. Vergessen wir nicht, dass das Buch in den 1960er Jahren verfasst wurde. Nicht nur in Kinderbüchern kam das mittlerweile zu Recht verpönte N-Wort ganz selbstverständlich vor. Das würde heute niemand mehr so schreiben. Aber ich kann schlecht eine Schere oder Tipp-Ex nehmen, um das Wort aus dem Buch tilgen.

Von guter Qualität sind die vielen, vielen Bilder. Die Große Kunstgeschichte hat 735 Seiten, von denen beinahe jede mehr als ein Bild zeigt. Sie sind auch heute, mehr als 40 Jahre nach dem Kauf des Bandes, weder ausgeblichen noch haben sich ihre Farben verändert. Der Druck war offenbar sehr gut, kein Wunder, beim exorbitanten Preis des Werkes.

Unstabilität und Ungewissheit

Das endet übrigens mit dem Kapitel „Kunst nach 1960“. Immerhin, der Tod Picassos im Jahr 1973 ist in meiner Auflage bereits enthalten. Wie es mit der Kunst weitergehen würde, darüber wagte die Autorin keine Prognose. Ihr Schlusssatz: „So ist es schwer, bei so vielen und wechselnden Aktivitäten im heutigen Kunstbetrieb nicht dem Gefühl von Unstabilität und Ungewißheit zu erliegen.“

Ich bin über viele Jahre diesem wunderbaren Buch erlegen. Der Kauf hat sich für mich gelohnt, trotz der paar fehlenden Texte. Irgendwann habe ich diese Lücke in der Kunstgeschichte verschmerzt.

4 Kommentare

  1. Danke für den tollen und informativen Beitrag. Ich bin erstaunt, wieviel Mut du aufgebracht hast, im Alter von 15 Jahren, 98 D-Mark auszugeben, für ein Buch mit Kunstgeschichte. In deinem Alter, habe ich mich eher mit der Pubertät herumgeschlagen und anderen dingen, die Heute für mich nicht relevant sind. Zurück zum Thema. Ich bin selber leidenschaftliche Künstlerin, die die Liebe zum Malen, durch meine Mutter entdeckt hat, weil sie mich sehr gefördert hat und mir das gleiche Buch von Gina Pischel geschenkt hat. Auch wenn ich das Geld nicht selber dafür gezahlt habe, muss ich sagen, dass es sich insgesamt sehr gelohnt hat, es zu besitzen.

    1. Liebe Rhea,
      danke für Deinen Kommentar. Ich war schon immer verrückt, was Bücher angeht, und bei Kunst ist es ganz ähnlich. Ich kann an keinem Buchladen vorbei gehen und muss mich selbst immer bremsen. Das hat sich bis heute nicht geändert, ist allerdings in diesen digitalen Zeiten auf Bildbände beschränkt. Lesestoff kommt aus der Bücherei oder über Blogs aus dem Internet. Schont auch etwas die Bücherregale.
      In meiner Reihe der Buchsouvenirs stelle ich die Schätze meiner Kindheit vor. Es freut mich jedes Mal, wenn sich jemand findet, der das Buch kennt und ebenso geliebt hat. Das war bisher bei fast allen vorgestellten Büchern der Fall. Mal sehen, wie es weitergeht.

  2. Hallo,

    ich bin zufällig auf diesen Blog gestoßen, weil ich das Internet nach der Autorin Gina Pischel befragen wollte. Deren „Große Kunstgeschichte“ haben wir letztes Jahr von den Schwiegereltern geerbt. Es handelt sich um die erste Auflage von 1975 — und in dieser sind auf den fraglichen Seiten statt Lücken ganz viele Buchstaben!

    Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen dieTexte einscannen und zuschicken; ich bräuchte nur eine E-Mail-Adresse, an die die Sendung gehen soll.

    Mit freundlichen Grüßen

    Wolfgang Ludwig-Mayerhofer

  3. Lieber Wolfgang Ludwig-Mayerhofer,
    das wäre ganz reizend, ich würde mich sehr freuen, die Seiten vervollständigen zu können. Meine E-Mail-Adresse lautet blog@pyrolim.de
    Vielen herzlichen Dank im Voraus und weiterhin schöne Weihnachtstage,
    Susanne Peyronnet

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