Rezension: „Wut und Wertung“ von Johannes Franzen
Johannes Franzen hat mit „Wut und Wertung“ eine Untersuchung darüber vorgelegt, warum wir über Kunst streiten. Am Ende gibt er eine überraschende Antwort.
Eins vorweg: Ich bin keine Heidegger-Kennerin. Und habe deshalb gleich nach wenigen Seiten naseweis moniert, dass ein Satz im Buch „Wut und Wertung“ von Johannes Franzen offenbar einen Druckfehler enthält. „Und so entbergen diese Fälle . . .“ Entbergen? Nie gehört. Und ich dachte immer, mir könne in Sachen Sprache niemand mehr etwas vormachen. Entbergen heißt, etwas zeigen, zum Vorschein bringen, und wird offenbar oft mit dem Philosophen Martin Heidegger verbunden.
Nachdem ich über den Berg des Entbergens gegangen bin, habe ich „Wut und Wertung“ verschlungen. Für jeden, der sich nur ein Fitzelchen für Kultur interessiert, egal ob klassische oder moderne oder Pop- und Fankultur, ist es eines der erhellendsten Sachbücher der vergangenen Wochen, wenn nicht Monate oder Jahre. Untertitel: „Warum wir über Geschmack streiten“. Oder wie es der Autor formuliert: „Warum hassen wir bestimmte Kunstwerke (Songs, Bücher, Filme, Games etc.)?“
Kleiner Exkurs: Ich hasse „Gott erhalte Franz den Kaiser“ oder genauer das von Haydn 1797 vertonte Gedicht, das der Komponist als für mich nerviges Streichquartett in D-Dur ausgeführt hat. Die Melodie kennen alle, es ist die der deutschen Nationalhymne. Das Quartett ist für mich schwer zu ertragen. Sollte es jemand brillant finden, könnte ich wütend darauf reagieren.
Ein Angriff auf uns selbst
Und genau mit dieser Reaktion steigt Franzen in das erste Kapitel seines Buches ein. Stell dir vor, du bist auf einer Party und es wird über Filme diskutiert. Du nennst begeistert einen Lieblingsfilm und alle machen deutlich, dass du damit völlig falsch liegst und keine Ahnung hast. Ein Angriff auf unsere Kunst ist immer auch ein Angriff auf uns selbst. Das ist eine der Kernthesen des Buches.
Vom Szenario der Filmdebatte auf der Party aus entwickelt Franzen auf 402 Seiten, wie Wut und Wertung schon immer und seit der Digitalisierung noch viel heftiger die Sicht auf Kunst und Kultur bestimmen. Dabei legt er leicht nachvollziehbar das dar, was viele von uns schon immer unbewusst wussten, aber nie so deutlich ausgesprochen oder niedergeschrieben haben. Welche Mechanismen wirkten und wirken, wie über Jahrhunderte erst das Publikum diszipliniert und heutzutage die Künstler und die Rezipienten von Fandoms und Shitstorms beeinflusst werden. Welche damit sogar die professionelle Kritik herausfordern.
Jeder kennt die Erzählungen, wie die Zuhörer einst in den Opernhäusern während der Aufführungen gegessen und geredet haben. Und heute: weihevolle Stille vom ersten Moment bis zum letzten. Jeder weiß, wann er im Konzertsaal nicht klatschen darf (nicht zwischen den Sätzen). Hier hat das Kunstparadigma gewirkt, dem Franzen eine ausführliche Darstellung widmet.
Hochkultur versus Massengeschmack
Es ist die Klassifizierung zwischen Hochkultur und Massengeschmack. Hochkultur will erarbeitet und nicht (nur) genossen werden. Nur Eingeweihte können sie angemessen rezipieren. Und sie muss gegen erfolgreiche Nicht-Kunst verteidigt werden. Nicht das einzige Werkzeug zur Disziplinierung des Publikums. Da sind noch der Kanon und die Schullektüre. Franzens Ausführungen zum Mega-Langweiler „Effie Briest“ von Fontane sind genauso vergnüglich zu lesen wie seine anderen Beispiele. Irgendwo dort findet sich beinahe jeder Leser in der Fülle der aufgeführten Konflikte und Skandale wieder.
Dem Elitären folgt die digitale Gegenwart, die einen Großteil des Buches einnimmt. Nicht nur bei im Netz empört verrissener Schullektüre – „Scheiß drecks Gedicht!“ -, sondern bei Fan-Armeen, der Frage, wer Kultur bewerten darf oder kann bis hin zur Debatte um J. K. Rowlings transphobe Äußerungen und der öffentlichen Reaktion darauf. Franzen macht weder vor Lindemann noch vor Layla halt.
Plötzlich haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt. Nicht mehr die Hochkultur und ihre Verfechter maßregeln die Rezipienten, sondern das Publikum redet bei der Bewertung von Kunst und Kultur ein gehöriges Wörtchen mit. Was mitunter schwerwiegende Folgen hat.
Franzen enthält sich der Wertung
Franzen führt für alle seine Thesen viele Beispiele an, nennt Künstler, Werke, Filme, Videospiele. Nicht jeder Leser wird alle kennen, aber für jeden sind welche dabei, von denen er sofort eine Vorstellung hat. Und sei es nur die musikalische Umweltverschmutzung im Supermarkt. Aus diesen Beispielen heraus entwickelt der Autor seine Thesen. Er schreibt verständlich und quält seine Leser meistens nicht mit Fachausdrücken – mal abgesehen vom Entbergen – und Bandwurmsätzen. Nur manchmal schlägt bei seinem Schreibstil doch der Wissenschaftler durch. Und Franzen vermeidet es, selbst Stellung zu beziehen in den Kulturdebatten, die er erzählt. Dafür weist er immer wieder darauf hin, worum es letztlich geht: Emotionen. Die löst nur wahre Kunst aus und nicht die, die zur wahren Kunst erklärt wird.
Knackige Kapitelüberschriften wie „Kitsch und Ekel“ oder „Der nervigste Song aller Zeiten“ machen stets Lust aufs Weiterlesen. Ich kann Johannes Franzen nur wünschen, dass möglichst viele Leser das Buch in die Hand nehmen, um es mit Spaß zu lesen. Denn Kunst und Kultur haben einen schweren Stand. Das weiß ich aus meiner alltäglichen journalistischen Arbeit und das kommt nur ganz nebenbei auch im Buch von Franzen vor. Text über Theater und Oper wären aufgrund mangelnder Klicks in Gefahr, immer mehr aus dem Online-Angebot von Zeitungen und Zeitschriften zu verschwinden. „Das klickt nicht“ höre ich selbst oft genug und kann diese Klage nachvollziehen.
Die Antwort auf die Kernfrage
Ich wünsche Johannes Franzen, dass sein Buch kräftig klickt. Und dass es bei seinen Lesern ebenso oft Klick macht wie bei mir. „Wut und Wertung“* hat mir viel Freude gemacht und Erkenntnis gebracht und ist bereits ein Lieblingsbuch geworden. Am Ende beantwortet er dann noch die Frage, warum wir über Kunst streiten: „Weil es so viel Spaß macht!“
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