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Die große Gängelmaschine

Erst die Raucher, jetzt die Dicken: Wieder gehen angebliche oder wirkliche Experten daran, andere Menschen zu einem besseren und gesünderen Leben zu verdonnern. Mehr Sport, weniger Essen, und das, was auf den Teller kommt, sollte handverlesen sein. Der stete Tropfen der Appelle und Vorschriften für richtiges und gutes und gesundes Verhalten verfehlt seine Wirkung nicht: Die Gängelei wird zum Volkssport.

Ich rauche. Bis jetzt hat es noch niemand geschafft, mich davon abzubringen (obwohl ich gerne aufhören würde, aber das ist ein anderes Thema).  Natürlich rauche ich so gut wie nie in geschlossenen Räumen. Darf man eh nirgends mehr. Aber ich sehe mich zunehmend auch Angriffen ausgesetzt, wenn ich draußen, im Freien, rauche. „Musst du die gute Luft hier im Garten so verpesten?“ Oder noch schöner, mit unverhohlenem Vorwurf und aus gut 15 Metern Entfernung. „Ich GENIESSE gerade die GUTE Luft hier draußen.“

Nun also die Dicken, wie meine Zeitung, die Lübecker Nachrichten, berichten (man achte auch auf die Kommentare). Übers Geld sollen sie zu Diäten bewegt werden. Dabei wissen wir doch alle: Abnehmen ist genauso schwierig wie mit dem Rauchen aufzuhören. Was aber noch viel schlimmer ist, sind die scheelen Blicke, die allen zugeworfen werden, die sich nicht so verhalten, wie es angeblich richtig sein soll.

Immer mehr Menschen fühlen sich berufen, den angeblichen Abweichlern vom erwünschten Verhalten deutlich zu machen, dass und was sie falsch machen. Durch Worte und Blicke. Die Gesellschaft wird zunehmend zur kollektive Gängelmaschine. Alle sollen brav, sauber, gesund, sich aller Probleme bewusst sein und stets und ausnahmslos danach handeln. Und das möglichst auf allen Feldern: bei der Gesundheit sowieso, aber auch bei der Sprache, bei der Umwelt, beim Energieverbrauch, im Straßenverkehr. Nicht rauchen! Nicht übergewichtig sein! Nie vergessen, Männer und Frauen explizit sprachlich mit zu benennen! Nie zum Fenster hinausheizen! Nie ohne Helm radeln! Nie, nie, nie . . ! Immer Gemüse statt Süßigkeiten in die Brotdose der Kinder legen! Immer genug bewegen und die Treppe statt den Fahrstuhl nehmen! Immer Energiesparbirnen einschrauben, wenn eine konventionelle kaputt geht! Bloß nicht ausscheren, sich weigern, etwas mit einem Schulterzucken abtun. Wir sollen uns stets bewusst sein, dass wir erstens Vorbild sind und dass es zweitens andere Menschen gibt, die ein Recht darauf haben mitgenannt, mitgenommen, mitgefühlt zu werden.

Liebe Leute, es ist ja schön, wenn ihr euer Leben so brav und gesund und ordentlich eingerichtet habt. Aber bitte, bitte, lasst doch jeden nach seiner Façon selig werden. Freiheit ist auch die Freiheit, unvernünftig zu sein – so lange es niemandem anderem schadet. Und jetzt kommt mir bitte nicht mit den Krankenkosten und dem volkswirtschaftlichen Schaden oder was auch immer.

Ich bin nicht die einzige, der das Überbewusste mehr und mehr auf die Nerven geht. Auch andere haben ihrem Ärger darüber bereits Luft gemacht.

Über übertriebene Gendersprache und über Gästinnen und Mitgliederinnen hat die unnachahmliche Sprachpingel gerade hier geblogt.

Über Steaks ohne Fleisch, Rauchen ohne Tabak und das kastrierte Leben an sich hat Maxim Leo gerade einen lesenwerten Artikel verfasst.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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