Pyropro,  sinniert

Die aberzogene Empathie

Wo bleibt unser Mitgefühl für die sogenannte Unterschicht?

„Die sollen erst mal arbeiten.“ „Typisch Hartz IV“. Oder: „Selbst schuld.“ Sprüche, die die Spaltung unserer Gesellschaft in die da oben, die da unten und die, die fürchten, von da ob nach da unten zu fallen, auf den Punkt bringen. Ein Phänomen, das die „Zeit“ gerade in einem Artikel sehr tiefgründig beschrieben hat.

Rohe Bürgerlichkeit:

http://www.zeit.de/2011/39/Verteilungdebatte-Klassenkampf/

Was aber beflügelt den Klassenkampf von oben? Das unsichere Gefühl in Zeiten von Rettungsschirmen, die von hier bis zum Universum reichen, oder die Angst um den Abstieg. Ja, auch. Aber es sind vor allem die Medien und die Politiker. Und die Armen selbst.

Ich weiß, dass der Vorwurf an die Medien wohlfeil ist, immer wieder angeführt und oft zitiert wird. Aber da ist in diesem Fall  etwas dran. Das Fernsehen führt sie uns vor, die Hartz-IV-Leute in dritter Generation, die krakeelende bildungsferne Familie, die schlaffen jungen Leute, die den Hintern nicht hoch kriegen. Sie prägen auf eine Art unser Bild von der sogenannten Unterschicht, dass dem Zuschauer jede Empathie aberzogen wird. Eine Art von Erziehung übers Fernsehen, die nicht dem – da ist das Wort wieder – Unterschichten- oder Trash-TV vorbehalten ist.

Der zweite Vorwurf geht an die Politik. Ob einst der Asylmissbrauch oder der Sozialmissbrauch – Politik wertet Menschen ab, in dem sie diese Begriffe immer und immer wieder anführt. Man muss es nur oft genug sagen, dann glauben es die Menschen auch und verlieren ihr Mitgefühl. Auf dem Höhepunkt der Asyldebatte drängte sich der Eindruck auf, niemand könne sich auch nur entfernt vorstellen, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen. Ob wegen politischer Verfolgung oder lebensbedrohender Armut. Wir saßen hier satt und gesund und haben über die gerichtet, die um ihr Leben flüchten mussten. Ähnlich hat die Politik das sogenannte Prekariat abfällig geredet.

Der Bodensatz der Gesellschaft, die, die früher Asoziale genannte wurden, beträgt immer um die acht Prozent.

http://www.faz.net/artikel/C30189/studie-acht-prozent-der-bevoelkerung-gehoeren-zur-unterschicht-30145123.html

Daran ändern alle sozialpolitischen Maßnahmen nichts. Eine Einschätzung, die mir mal ein Streifenpolizist aus seiner täglichen Arbeit bestätigt hat. Zwar schwanke dieser Prozentsatz je nach den Bemühungen des Staates und seiner Hilfsprogramme, doch letztlich nur um ein Prozent nach unten oder oben, sagte dieser offenbar sehr bewanderte Beamte.

Abfällig wurde dieses Prekariat von denen da oben schon immer betrachtet. „Das sind die Leute aus dem Nachtjackenviertel“, hieß das früher bei uns zu Hause. Doch seit die Armen, Bildungsfernen öffentlich vorgeführt werden – oder sich selbst vorführen – hat diese Abfälligkeit eine neue Qualität erreicht. Sie ist in Begriffen wie „Kevinismus“ oder dem unseligen FDP-Spruch von der „spätrömischen Dekadenz“ inzwischen in den politischen Diskurs eingegangen. Ich erinnere an einen provozierendes Motto einer Aktion gegen Studiengebühren: „Schakkeline, komm wech von die Bildung, du Arsch!“ Gut gemeint, aber erhellend in der Wortwahl.

Hier die Erklärung zum Kevinismus:

http://www.beliebte-vornamen.de/187-kevinismus.htm

Wie sehr sich das Herabschauen auf die arme Klasse – auch so ein wiederbelebter Begriff – in allen Gesellschaftsschichten und auch bei Menschen, die es besser wissen müssten, manifestiert hat, beweist eine kleine Szene aus der Praxis eines Kinder- und Jugendpsychologen. „Ach, dein Vater ist zu Hause? Arbeitslos?“ Dass der Vater des Kindes Hausmann ist, die Familie also den Rollentausch pflegt, auf die Idee kommt die Ärztin gar nicht.

Ein weiteres Beispiel: „Arm, alt, arbeitslos, krank – und das alles auch noch unverschuldet“ lautet eine flapsige Zusammenfassung der Gründe, aus denen Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Da ist was dran. Wie oft hört man von verhältnismäßig jungen Leuten, Menschen im besten Erwerbsalter, sie könnten wegen ihres Rückens oder aus anderen gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten. Natürlich gibt es Krankheiten, die Menschen zu Frührentnern machen. Es scheint aber, dieses Argument werde inflationär verwendet. Vor allem von denen, die nicht arbeiten wollen.

Bin ich jetzt selbst in die Falle gegangen? Ja und nein. Ich sehe an mir selbst ein Verschwinden der Empathie für diejenigen in der Gesellschaft, denen es nicht so gut geht wie mir. Das macht mich manchmal erschrocken und war vor 20 Jahren noch ganz anders. Ich habe den Verdacht, dass ich damals zu gutgläubig und blauäugig und heute zu hart und unnachgiebig bin. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit beim Blick auf die sogenannte Unterschicht irgendwo in der Mitte. Diese Mitte wieder zu finden, wäre eine lohnende Aufgabe von Medien, Politik und Gesellschaft.

Zum Weiterlesen: Die Rede von der neuen Unterschicht

http://www.uni-due.de/imperia/md/content/biwi/kessl/das_wahre_elend.pdf

 

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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