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Sozial schwach: Ein schwacher Begriff für ein komplexes Thema

Etwa acht Prozent der deutschen Bevölkerung, so eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, gelten als arm, sozial schwach, asozial, als sogenanntes Prekariat. Egal, wie sehr sich der Staat in Sachen Bildung, Jugend- und Sozialbetreuung bemüht, diese Quote schwankt nur leicht nach oben oder unten, bleibt aber grundsätzlich stabil. Unabhängig davon kommt diese Gruppe häufig in Medienberichten vor. Aber wie soll man sie nennen? Darf man frank und frei sagen, um wen es sich hier handelt, oder müssen beschönigende und damit schonende Begriffe her?

Ich habe jüngst in einem Gerichtsprozess gesessen. Der Verteidiger stellte während der Verhandlung fest, sein neben ihm sitzender Mandant sei „einfach strukturiert“. Wie muss sich dieser Mann in diesem Moment gefühlt haben? Hat er verstanden, was da über ihn gesagt wurde? Der Verteidiger hat es ziemlich einfach ausgedrückt. Wenn ein psychiatrischer Gutachter im Verfahren von „Grenzdebilität“ spricht oder ähnliche Fachtermini verwendet, bezweifle ich manchmal, ob der Angeklagte weiß, als was er da bezeichnet wird.

In Gerichtsprozessen muss alles auf den Tisch. Der Verteidiger versucht, entlastende Umstände für seinen Mandanten anzuführen, dazu gehören auch Probleme in seinem sozialen Leben, in seiner Jugend oder mangelnde Intelligenz. Aber wie steht es außerhalb von Gerichtssälen? Darf man klar sagen, wie es um Menschen steht? Oder muss das hinter harmloseren Begriffen versteckt werden? Sollen wir „einfach strukturiert“ und „sozial schwach“ sagen und schreiben?

Zunächst: Sozial schwach ist für mich nicht gleich arm. Da muss mehr dazu kommen. Die sogenannte Bildungsferne zum Beispiel, sich hängen lassen – heißt etwas hübscher „Mangel an Aufstiegswillen“ – und mangelnde soziale Kompetenz, unschöne Umgangsformen. Das macht es noch schwerer, die richtige Bezeichnung zu finden. Ich kenne genug Menschen, die arm sind oder sich aus Geiz selbst arm halten, aber die alles andere als unsozial sind, weil sie feste soziale Kontakte pflegen, Hobbys haben, die kein oder wenig Geld kosten, sich um andere kümmern, mit denen man sich gut unterhalten kann und die rundherum liebenswert sind. Alles keine Frage des Geldes. Und es gibt Menschen, die haben genug Geld, aber sind Kotzbrocken. Oft aber fallen Armut und soziale Schwäche zusammenfallen.

Sozial schwach ist also eine ungeeignete Formulierung. Abgesehen davon: Ist es besser, Mängel von Menschen mit Worten zu beschönigen, sozusagen den Vorgaben der Political correctness zu folgen? Dahinter steckt die Idee, Menschen nicht für etwas mit Worten herabzuwürdigen, für das sie nichts können und das sie nicht per se abwertet, also Geschlecht, Religion, Hautfarbe oder eine Behinderung. Auch Arme können oft nichts für ihre Armut, haben also Anspruch auf eine nicht beleidigende Bezeichnung. Und was ist mit den sogenannten sozial Schwachen? Viele von ihnen tragen nicht die Schuld daran, dass sie in diese Kategorie fallen. Damit haben auch sie Anspruch darauf, nicht abwertend bezeichnet zu werden. Diejenigen, die ihre Armut und mangelnde soziale Teilhabe doch selbst verschuldet haben, ändern daran nichts.

Es ist keine falsch verstandene politische Korrektheit, Unterschichtler mit schlechtem Benehmen, schlechter Bildung und ohne Bock auf Arbeit nicht als solche in der Öffentlichkeit zu bezeichnen. Ich bin ein Freund klarer Worte, aber Abwertungen dürfen sie nicht enthalten, gegen niemanden. Das richtige Wort für diese Menschen habe ich noch nicht gefunden, „sozial schwach“ ist genauso falsch wie Prekariat. Eine bessere Bezeichnung, die klar sagt, was ist, die Betroffenen aber nicht herabwürdigt und dennoch für den durchschnittlichen Leser oder Hörer klar verständlich ist, ist mir noch nicht eingefallen. Arm aber ist in jedem Fall falsch. Siehe oben.

Die Nationale Armutskonferenz hat eine Liste der sozialen Unwörter herausgegeben. Leider sind viele der dort genannten Alternativen – wenn es denn überhaupt welche gibt – nicht sehr praktikabel, umständlich oder unverständlich.

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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