Hetze im Netz – der virtuelle Stammtisch
„Jeder blamiert sich, so gut er kann“, lautet ein geflügeltes Wort in meiner Familie. Da ist viel wahres dran. Aber Blamage allein ist noch kein Drama und fällt nur auf den zurück, der sich blamiert. Die alltägliche Hetze, die dank Internet in – man verzeihe mir die Phrase – aller Munde ist, hat eine ganz andere Dimension. Doch dafür das Netz zu verteufeln, ist falsch gedacht.
Der Fall Emden hat all denen in die Hände gespielt, die im Internet einen Hort des Bösen sehen. Ich meine nicht den schrecklichen Mord an der elfjährigen Lena und nicht die Polizei-Pannen, sondern die Hetzjagd gegen den zunächst festgenommenen 17-Jährigen und den Mob, der sich daraufhin vor der Polizeiwache versammelte. Doch Emden ist überall. Der Fall hat nur exemplarisch online in die Welt hinaustrompetet, was seit Jahrhunderten in solchen Fällen gang und gäbe ist. Nur hat es mit dem neuen Medium Internet eine viel größere und schnellere Verbreitung gefunden.
Ganz früher war es Mundpropaganda, dann waren es Zeitungen, Radio, Fernsehen und nun also das Internet: Wo immer etwas geschieht, das die Menschen bewegt, gibt es Reaktionen. Je nach Medium und Reichweite mehr oder weniger begrenzt. Dass der Mob angebliche oder wirkliche Mörder lynchen wollte oder gelyncht hat, ist nichts Neues. Das hat es schon immer gegeben. Jetzt so zu tun, als sei dieses Phänomen allein dem Internet und den sozialen Netzwerken anzulasten, ist falsch und kurzsichtig.
Hier vermengen sich zwei Dinge: der uralte Drang der Menschen, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, und das Unbehagen gegenüber einem neuen Medium. Da kommt es doch gut zupass, die missliebigen Meuchel-Aufrufe gleich dem Netz in die Schuhe zu schieben. Wer glaubt, dass Hetz-Parolen wie die von Emden etwas Neues sind, hat noch nie am Stammtisch gesessen und dort die Sprüche gehört.
Heute heißt es: Erst denken, dann tippen
Die reichten schon immer von „Dem sollte man die Eier abschneiden“ über „Rübe ab“ bis „für immer einsperren“. Unreflektierte Pöbeleien, die wie wir wissen nicht einmal vor der Politik halt machen. Die eiserne Regel „erst denken, dann reden“, heute „erst denken, dann tippen“ ist schon immer im Eifer des Gesprächs unter den Stammtisch gefallen, unter den reellen oder den virtuellen. Die viel beschworene Unschuldsvermutung hat seit alters her einen schweren Stand gehabt.
Der 18-Jährige, der den Lynchaufruf von Emden gestartet hat, gab gegenüber der Polizei an, er sei sich der Tragweite dessen, was er getan hat, nicht bewusst gewesen. Er habe nicht ahnen können, welchen Widerhall sein Aufruf haben werde. Schwer zu glauben. Nach Mega-Partys, zu denen nach einem Facebook-Post tausende von Besuchern strömten, dürfte jeder wissen, was sich online so lostreten lässt. Deshalb halte ich diese Aussage für eine Schutzbehauptung.
Internet erhöht lediglich die Reichweite
Mein Fazit: Hetze, aufwiegeln, andere verbal herabwürdigen, das hat es schon immer gegeben. Durch das neue Medium Internet ist nur die Reichweite unendlich viel größer geworden. Der klassischen Hetze ist der Sprung von der Mundpropaganda zur weltweiten Verbreitung gelungen. Dabei hat sie Zeitungen, Radio und Fernsehen übersprungen. Dort wurde die Hetze – bis auf Ausnahmen – herausgefiltert. Das Netz ist Mundpropaganda mit anderen Mitteln. Und noch ein entscheidender Unterschied: Jetzt kann der Urheber anonym bleiben. Diese Anonymität führt nicht zu mehr Hetze, sondern lässt die Hetzer nur unbefangener und ungezügelter agieren.
Drei Arten von Online-Propagandisten
Politische Hetzer: Sie nutzen das Medium mit kühlem Verstand für ihre Zwecke. Extremistische Meinungsmacher haben das Netz schnell als Forum entdeckt und versuchen, die Nutzer mehr oder weniger subtil für ihre Ideen zu gewinnen.
Mobbing: Wo sonst begrenzt auf dem Schulhof oder im Betrieb Menschen gedemütigt und herabgewürdigt wurden, finden die Angriffe nun eine weite Verbreitung. Zum Schaden der Opfer.
Stammtisch-Hetze: Menschen, die auch im realen Leben nicht zimperlich sind mit schnellen Urteilen und drastischen Strafandrohungen halten sich im Internet ebenfalls nicht zurück. Das ist keine Frage des Mediums, sondern eine Frage des Charakters, der Bildung, der eigenen ethischen Position.
Nicht das Medium ist böse, sondern der, der Böses sagt und schreibt. Die Bühne ist für die Hetzer unendlich groß geworden, aber das Stück ist immer noch das gleiche.
Wer jetzt immer noch nicht weiß, was Hasskommentare anrichten können und was sich – insbesondere bei Facebook – dagegen tun lässt, dem sei diese Seite ans Herz gelegt.
Ein Kommentar
Roger Burk
Sehr gut. Danke dafür!