genervt,  Pyropro

Internetsucht oder wie Millionen Deutsche krank geredet werden

Gehen wir doch mal auf die Suche nach Süchten. Gestern geisterte die Schlagzeile durch den Blätterwald, mehr als eine halbe Million Deutsche seien süchtig nach dem Internet. Ich stelle mir das so vor, dass diese Menschen jenseits von Tastatur und Bildschirm oder Androidhandy Schweißausbrüche bekommen, unter Übelkeit leiden und ganz hibbelig werden. Bis sie endlich wieder – ja, was denn? Im Netz lesen dürfen. Oder spielen. Oder chatten.

Also, ich gebe zu, ich bin auch süchtig. Nach Texten. Also buchsüchtig. Zeitungssüchtig. Hörbuchsüchtig. Und nach Unterhaltung. Also sabbelsüchtig. Musiksüchtig. Konzertsüchtig. Filmsüchtig, reportagesüchtig. Vor 500 Jahren, als gerade der Buchdruck erfunden würde, hätte man mir nachgesagt, dem neuen Medium verfallen zu sein.  Wo es doch so schöne mündliche Überlieferungen gibt. Was muss die da lesen?

Lesesüchtig bin ich seit der ersten Klasse, seit ich lesen gelernt habe. Ich habe meine halbe Schulzeit damit verbracht, heimlich unter der Bank zu lesen, anstatt dem Lehrer zuzuhören. Dass ich mein Abi geschafft habe, liegt wohl eher am angelesenen Allgemeinwissen als an meiner Aufmerksamkeit für den Unterricht. Ich bin noch heute ein Dauerleser, nur dass ich vermehrt am Bildschirm lese. Im bösen, bösen Internet.

Warum werden intensive Internetnutzer durch das Wort Sucht zu Kranken gemacht? Da tut sich ein Generationenkonflikt auf. Die Nicht-Onliner oder gelegentlichen Internetnutzer sehen nur das Böse im Netz. Ich will ihnen nicht unterstellen, dass sie damit willentlich ein Stück neuer Demokratie und Denkfreiheit beschneiden. Indirekt versuchen sie es dennoch. Mit Zensur kommt niemand mehr durch, also muss es über Lobbyismus gehen. Ändert über die Einstellung in den Köpfen die Einstellung zur Freiheit des Netzes.

Unbenommen: Es gibt die Sucht, im Internet oder am Computer zu spielen. Das aber ist Spielsucht, nicht Internetsucht. Wie schlimm so etwas sein kann, zeigt eindrucksvoll dieser Beitrag von Florian 1401 auf goodnewstoday.de

http://goodnewstoday.de/gute_nachrichten/2010/11/20/raus-aus-der-internetsucht-oder-rein-ins-reallife/

Von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung erwarte ich bei ihren Aussagen mehr Trennschärfe. Man wirft nicht mit Ausdrücken wie Internetsucht um sich, wenn die überwiegende Mehrheit der Deutschen im Internet unterwegs ist und es zwar viel, aber durchaus verantwortungsbewusst nutzt. Das ist, als spreche man von schlimmer Autosucht (weil viele Leute viel Auto fahren) oder von Fernsehsucht.

So weit mein Kommentar zur Internetsucht.

Viele besser als ich können das Twitternutzer (auch alles Süchtige).

Die schönsten Tweets zur Internetsucht:

Ist Internetsucht ein Grund, sich krankschreiben zu lassen? (www.twitter.com/110101001100101)

Lieber Internetsucht als Deutschlandsucht den Superstar. (www.twitter.com/Sillium)

Eure Internetsucht ist langweilig im Vergleich mit meiner Atemluftsucht. (www.twitter.com/hoellejawohl)

Neben meiner dramatischen Internetsucht leide ich übrigens auch unter einer unheilbaren Sauerstoffsucht. (www.twitter.com/saschalobo)

Es gibt gar keine Internetsucht. Es gibt ja auch keine Atemsucht, Ernährsucht, Lebsucht oder Existiersucht. (twitter.com/_CaptainDan_)

Wenn es nicht mit Schmutzvorwürfen oder Verfassungsbruch funktioniert, wird es halt zur Krankheit erklärt. (www.twitter.com/darmflora)

 

Vom falschen Begriff „Internetsucht“ handelt auch dieser lesenswerte Artikel der TAZ:

http://taz.de/Studie-sieht-halbe-Million-Internetsuechtige/!78875/

Hier ist der Link zur Pinta-Studie, auf die sich die Drogenbeauftragte stützt:

http://drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/DrogenundSucht/Computerspiele_Internetsucht/Downloads/PINTA-Bericht-Endfassung_280611.pdf

 

 

Susanne Peyronnet *1960 Wurzeln in Niedersachsen Leben in Schleswig-Holstein Redakteurin seit 1981 Hobbys: Reisen, Lesen, Reiten Musik: Klassik, Klassik, Klassik (Ausnahme Kammermusik) Länder: Deutschland, Frankreich

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