Dresden 1945: Der Tag, als der Geheimrat verbrannte

Die Familie meines Vaters kommt aus Dresden. Mein Vater, Jahrgang 1933, wuchs in  Cossebaude auf, einer kleinen Gemeinde auf halber Strecke zwischen Dresden und Meißen. Seine Großeltern lebten in der Dresdner Neustadt, seine Tante war in Wachwitz verheiratet. Die  Familie erlebte die Dresdner Bombennacht. Was aber vor allem im Gedächtnis blieb und oft erzählt wurde, ist die Geschichte vom geretteten Oberförster und vom verbrannten Geheimrat.

Der Oberförster und der Geheimrat waren Bezeichnungen für zwei Gemälde, die beide den Curt-Opa zeigten. Mein Urgroßvater Curt (1867-1955), von Beruf Eisenbahnobersekretär, hatte einen echten Charakterkopf. Da es in seiner Familie Tradition war, sich in Öl malen zu lassen, beauftragte er einen bekannten Maler, ihn zu porträtieren. Für die Sitzungen im Atelier des Künstlers machte sich Curt jedes Mal fein, kämmte den mächtigen Bart und die Haare und zog sich seinen besten Anzug an.

Ein zweiter Maler

Das Gemälde war längst vollendet, da wurde der Curt-Opa auf der Straße von einem jungen Maler angesprochen. Der Künstler sagte, er würde so gern den Charakterkopf vom Curt-Opa malen, der müsse das Bild auch nicht kaufen. Es gehe ihm nur um das Motiv. Der Curt-Opa ließ sich herab, noch einmal Modell zu sitzen. Allerdings im Alltagsanzug und so, wie er gerade war. Als das zweite Gemälde fertig war, überredete der Maler die Alma-Oma, die Frau vom Curt-Opa, das Gemälde doch zu kaufen. Das erste Bild mit dem fein gemachten Curt-Opa trug fortan den Beinamen “der Geheimrat”, das zweite von dem jungen Maler den Beinamen “der Oberförster”.

Der Oberförster: Curt (1867-1955), Eisenbahnobersekretär
Ds gerettete Gemälde: Der „Oberförster“, Curt (1867-1955), Eisenbahnobersekretär

Die Bilder hingen bis zum Februar 1945 in der Wohnung meiner Urgroßeltern in der Dresdner Neustadt, zusammen mit den Ahnenbildern der Generationen davor. Am Tag vor dem verheerenden Bombenangriff auf Dresden bat die Alma-Oma ihre Schwester, die Gemälde mit zu sich nach Wachwitz zu nehmen. Da sie sie aber in der Straßenbahn transportieren musste, konnte sie nicht alle mitnehmen. Der Geheimrat blieb zurück – und verbrannte in der folgenden Nacht im Dresdner Bombenhagel.

Eine etwas andere Geschichte

So jedenfalls war mir bisher die Geschichte in Erinnerung. Als ich jetzt mit meinem Vater in Dresden war, sprachen wir darüber und er erzählte mir eine etwas andere Variante. Der Curt-Opa hatte sich nie mit dem „Oberförster“-Gemälde ausgesöhnt und es seinem Sohn, meinem Großvater, bald nach seiner Entstehung mitgegeben. Seitdem hing es in Cossebaude. Wenige Tage vor dem Bombenangriff gaben die Urgroßeltern meinem Großvater auch die anderen Bilder mit, mit Ausnahme des „Geheimrats“, der kurz darauf im Bombenhagel verbrannte. Von diesem Bild existiert nur noch ein Schwarzweiß-Foto.

Das verbrannte Gemälde: Der „Geheimrat“ Curt: Ein Foto ist alles, was von diesem Bild geblieben ist.

Der Curt-Opa und die Alma-Oma überlebten das Bombardement im Luftschutzkeller. Aber sie hatten alles verloren. Ihre Wohnung war komplett ausgebrannt, ihr ganzer Besitz vernichtet. Da fiel der Verlust des Ölgemäldes nicht ins Gewicht. Noch viel weniger angesichts der Zehntausenden von Toten um sie herum. Und so blieb der verbrannte Geheimrat bis heute eine Familienanekdote ohne größere Bedeutung.

Zwei brennende Orte

Sie reiht sich ein in andere Familiengeschichten, die zeigen, wie viel Glück meine Familie und die meines Mannes im verheerenden Zweiten Weltkrieg gehabt haben. Die Familie meines Vaters sah Dresden brennen und untergehen. Die Familie meines Mannes, vor allem sein Vater und Onkel, sahen Oradour sur Glane verbrennen und untergehen.

Der eine Brand ereignete sich in Deutschland, der andere in Frankreich. Für mich ist die Nähe beider Familien zu einem gewaltsamen Tod ein Zeichen dafür, dass sich Leid und Sterben nicht gegeneinander aufrechnen lassen. Sowohl der Brand von Dresden wie der von Oradour wurden über Jahrzehnte betrauert, aber auch instrumentalisiert. Dabei zählt nichts als die Menschen. Der Oberförster, der heute im Haus meiner Eltern hängt und dem mein Vater so sehr ähnlich sieht, ruft mir das immer in Erinnerung.

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