Im Klassikkonzert sind alle Köpfe grau

Demografische Beobachtungen in Chor und Publikum

Es war wieder einer der besonderen Tage für uns Chorsänger. Nach wochenlangen Proben stand das Konzert an. Bach und Mozart und dazwischen eine kleine Symphonie. Dieses Zwischenspiel gibt den Chorsängern Gelegenheit, den Blick vom Dirigenten ab und dem Publikum zuzuwenden. Dabei fällt eine seltsame Diskrepanz auf – Demografie im klassischen Konzert.

Gefühlte 98 Prozent der Köpfe im Publikum ziert graues Haar. Das Durchschnittsalter der Zuhörer wage ich nicht zu schätzen, aber es dürfte stark in Richtung Rentenalter tendieren. Klassik zieht offenbar nur ab einem gewissen Alter. Ein junges Pärchen im Publikum überrascht, lässt aufmerken. Und das kommt nur in jedem dritten Konzert vor, wenn überhaupt.

Wer den Blick dann über den Chor schweifen lässt, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Das Durchschnittsalter dürfte eher bei 60 als bei 50 liegen. Erfreulicherweise sind bei uns aber doch zumindest ein paar Jüngere dabei, vor allem in den Frauenstimmen. Und sogar der eine oder andere nicht Ergraute in der Männerriege.

Und dazwischen? Sitzt das Orchester. Die Profis. Und da sind sie, alle die Jungen, die sich der klassischen Musik verschrieben haben. Kaum ein Graukopf dazwischen, alles ausgebildete Orchestermusiker in den 30ern und 40ern. Junge Leute, die ihre Liebe zur Musik und zu einem Instrument zum Beruf gemacht haben. Dasselbe gilt für die vier Gesangssolisten.

Angesichts dieser Konstellation frage ich mich, wie die Situation in 20 oder 30 Jahren sein wird. Um den Nachwuchs bei den Berufsmusikern sorge ich mich nicht. Die Musikhochschule Lübeck hat in diesem Jahr 899 Bewerber gehabt, von denen 73 die Eignungsprüfung bestanden haben. Es gibt also offenbar genug junge Leute, die mehr als nur einen Hang zur klassischen Musik haben.

Warum profitieren die Chöre und das Publikum nicht davon? Warum ist es für viele Laienchöre so schwierig, Nachwuchs zu bekommen? Ich weiß keine Antwort auf diese Frage, ich weiß nur: Wer mit dem Singen beginnt, findet sehr schnell den Spaß und die Freude daran. Wer aber nicht wagt, der nicht singt.

Gleiches gilt für das Publikum. Sterben die Zuhörer aus? Warum wachsen keine nach?

Dass mein Eindruck stimmt, hat eine Studie des Kulturwissenschaftlers Martin Tröndle ergeben:

diepresse.com/home/kultur/klassik/543792/Studie_KlassikPublikum-stirbt-einfach-aus-

Für wen werden die jungen Musiker in 20 oder 30 Jahren musizieren, wenn die Chöre und das Publikum verschwinden? Bleiben Konzertsäle, Opernhäuser, Kirchen leer?

Hier wird das Thema eifrig diskutiert:

www.capriccio-kulturforum.de/allgemeine-themen/1809-stirbt-das-klassik-publikum-aus/

Nach einer repräsentativen Umfrage der ARD hört gerade mal jeder Fünfte über 14 Jahre klassische Musik:

http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/05-2006_Mende.pdf

Aber es gibt Hoffnung. Und die sehe ich an mir selbst. Bis zu meinem 30. Lebensjahr hatte auch ich keinen Hang zur Klassik. Und plötzlich, allerdings mehr durch Zufall, war die Liebe zu dieser Musik da. Ich hatte jedoch gute Startvoraussetzungen: musikalische Bildung in Kindheit und Jugend und – wenn auch zwangsweise – das eine oder andere klassische Konzert, dass ich mit meinen Eltern besuchen musste. Das fehlt vielen jungen Leuten heute. Ob die Klassik bei ihnen noch zündet? Das hängt, auch das steht in dem Media-Bericht, vom Umfeld zu Hause, vom Erlernen eines Instrumentes und überhaupt vom Kontakt zur Klassik ab. Wie bei mir.

2 Kommentare

  1. Ich sehe das nicht so pessimistisch. Die Grauköpfe wachsen nach – und es werden lt. Bevölkerungsstatistik immer mehr! Für Publikum dürfte also auch in Zukunft gesorgt sein. Schlechter sieht es freilich für die Chorsänger aus, denn wer sich nicht beizeiten um seine Stimme und um das lästige Notenlesen bemüht, wird es im Rentenalter kaum noch zu einer Bach-Kantate bringen. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!
    Eine Frage stellte ich mir allerdings über die „nicht ergrauten in der Männerriege“:
    Bin ich nun der eine oder bin ich der andere?

    1. Lieber Jörg-Peter,
      mit Deiner letzten Frage hast Du mich zum Lachen gebracht: Du darfst es Dir aussuchen. Vielen Dank für Deine ausgiebigen Anmerkungen. Einerseits hast Du hoffentlich Recht, was das Publikum angeht. Aber auch hier gilt: Was Hänschen nicht zu hören lernt, lernt Hans nimmermehr.

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