Leben aus zweiter Hand

Ich – das ist die Standardausrede – lese so etwas nur beim Arzt oder beim Friseur. So etwas, das sind bunte Blätter, Zeitschriften, die sich mit Promis und ihren Luxusproblemen, ihrem Liebesleben, ihrem Leben an sich befassen. Der Fall Kachelmann hat eindrucksvoll bewiesen, wie diese Blätter gefüttert werden wollen und müssen. Offenbar ein lohnendes Geschäft, denn dort werden Unsummen investiert. Um Unsummen damit zu verdienen. Denn auch die Klatschpresse rechnet mit spitzer Feder, und nur was sich verkauft, lohnt sich auch.

Wer liest so etwas außerhalb der Friseursalons und Arztpraxen? Ganz ohne sozialogische Studien oder repräsentative Umfragen fällt mir dazu ein: Leute, deren eigenes Leben farblos ist oder die es farblos finden. Wer Klatsch liest, leidet an einer Mangelerscheinung. Wer das eigene Leben als bunt empfindet, braucht keine bunten Blätter. Behaupte ich einfach mal so. Was schützt davor, außer beim Arzt oder beim Friseur der Yellow Press zu frönen? Viele Interessen außerhalb von royalen Häusern und dem Dasein von A- bis D-Promis. Eine umfassende Allgemeinbildung. Immer neugierig zu sein auf Neues, das es verdient, darauf neugierig zu sein. Und alles andere als Zuhause im Leben anderer Leute sein zu wollen. Informiert genug zu sein, um zu wissen, dass für die angeblich wahren Geschichten der echten und angeblichen Promis der alte Leitspruch gilt: „Von allem die Hälfte und noch ein bisschen abziehen, dann stimmt in etwa, was da behauptet wird.“

Am Fall Kachelmann, um auf das große Klatschthema dieser Tage zurückzukommen, gibt es auch für Nicht-Klatsch-Leser Interessantes. Aber das ist eben nicht das, was sich die Klatschblätter viel Geld kosten lassen. Sondern das, was kluge Gerichtsreporter und Gesellschaftskolumnisten durch akribische Beobachtung und gründliche Recherche zusammengetragen haben: das Funktionieren oder Nichtfunktionieren der Justiz. Die Spielchen der Prozessbeteiligten und die Ernsthaftigkeit eines Gerichtes, das sich unter mikroskopischer Beobachtung sah. Es lohnt sich, die unausgesprochenen Definitionen von Freispruch zu deklinieren, das Justizsystem auf den Prüfstand zu stellen und sich darüber Gedanken zu machen, wie sich Opfer von – vor allem sexuellen – Straftaten angesichts der Causa Kachelmann fühlen mögen und ob sie sich nun nicht lieber zwei Mal überlegen, Anzeige zu erstatten. Es lohnt aber auch darauf hinzuweisen, dass jeder Angeklagte das Recht hat, dass mit der vollen Wucht der Möglichkeiten nach der Wahrheit gesucht wird. Niemand will ein Fehlurteil, schon gar nicht, wenn es in einen Schuldspruch mündet.

Außer der Verteidigung, so ist es oft zu hören, gibt es nur Verlierer in diesem Verfahren. Kachelmann, sein angebliches oder tatsächliches Opfer, die Justiz. Wollen wir hoffen, dass die Opfer von Verbrechen und die Verfolgung der Täter nicht auch dazu gehören. Ob prominent oder nicht.

Der Klatschpresse sei gewünscht, dass es genug gut verkäufliche Themen jenseits von Verbrechen gibt. Das neue Kleid einer Schauspielerin bietet doch genug Stoff für gute Geschichten.

Ein Kommentar

  1. Danke – ein wertvoller Beitrag in schaumschlägerischen Zeiten voller wichtigtuerischer „Expertenmeinungen“ von Leuten, denen es zu anstrengend ist, eine solche Causa in aller Ruhe zu beobachten und zu verfolgen. „In dubio pro reo“ ist nicht nur einer der fundamentalen Rechtsgrundsätze des alten Römischen Rechts; er ist auch die einzig glaubhafte Rechtfertigung für Justiz an sich.

    Das mögen sich alle hinter die Ohren schreiben, die selbst einmal vor einem Gericht stehen könnten, weil ein durch irgendetwas geknicktes Seelchen „sein Recht“ sucht und deswegen vor Gericht zieht.

    Respekt der Journalistin @pyrolim!

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