Der „Tatort“: deutsche Biotope jenseits des eigenen Kirchturms

Sonntagabend, 20.15 Uhr, „Tatort“-Zeit: Die ganze Familie ist auf dem Sofa versammelt, in Köln jagen Schenk und Ballauf ein durchgeknalltes junge Pärchen. Ein Tatort-Film aus einer mittlerweile Jahrzehnte dauernden Reihe. Dieser Tatort ist aber eher untypisch. Er spielt nur zum Teil in einer heilen Welt aus Designerhäusern, dicken Autos und schönen Menschen. Der größte Teil spielt in der Hochhaus-Siedlung Köln-Porz. Gegensätzlicher können Welten nicht sein.

Viele vergessen in ihrem kleinen Kiez, dass es viele Welten in Deutschland gibt. Biotope, in denen Kulturen wachsen, die sich andere nicht mal im Traum vorstellen können, im Positiven wie im Negativen. Die wenigstens blicken über den eigenen Kirchturm hinaus. Das Verdienst dieses „Tatort“-Films ist es, unseren Blick zu weiten auf das, was jenseits unseres eigenen Horizonts liegt.

Der Gedanke, dass es so viele Welten außerhalb unseres direkten Umfelds gibt, kommt mir immer dann, wenn große innenpolitische Themen diskutiert werden. Beispiel Flüchtlinge und Migration. Im vergangenen Jahr sind, grob gerechnet, etwa eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Nicht nur in die Ballungszentren, nein, auch im letzten Dorf, etwa in unserem, leben welche. Ich sehe sie auf den Straßen, beim Einkaufen, und manchmal interviewe ich sie. Und doch: Nichts, aber auch gar nichts hat sich in unserem Leben dadurch geändert. Das dürfte für die ganz große Mehrheit der Deutschen gelten. Der Alltag läuft weiter wie bisher, wir müssen keinerlei Abstriche machen, nichts teilen, nichts abgeben. Mehr noch: Die sogenannte Flüchtlingskrise – ist es wirklich eine Krise? – ist die größte deutsche Entrümpelungs- und Altkleidersammelaktion der Nachkriegsgeschichte. Helfen und dabei aufräumen, besser geht’s doch gar nicht.

Migration, Fremde, soziale Probleme, auch von Deutschen, alles kein Thema also? Für uns, die wir auf dem Land wohnen, stimmt das. In unseren Grundschulklassen sitzt kaum ein Kind mit Migrationshintergrund, kaum ein Kind aus einer sozial schwachen Familie. Der Vater des Gymnasiasten mit dem iranischen oder irakischen Namen im Gymnasium ist Arzt und lebt schon lange hier. Soziale Brennpunkte, 1000 Leute aus 30 Nationen in einer Hochhaussiedlung, wie im Tatort? Kennen wir nicht. Hochhäuser nicht, und 30 Nationen auf einem Fleck auch nicht. Saufende Väter, ihre Kinder vernachlässigende Mütter, aggressive Teenager, drogensüchtige Mädchen gibt es sicher, aber niemand sieht sie. Alles spielt sich hinter sauberen Einfamilienhaus-Fassaden ab.

Keine 100 Kilometer weiter, in Hamburg, und ein paar hundert Kilometer weiter im Ruhrgebiet oder in Berlin sieht die Welt ganz, ganz anders aus. Anders, nicht schlechter. Sagen wir zumindest in unserem friedlichen Landlust-Leben. Der „Tatort“ hat gezeigt, dass es ganz andere Lebenswirklichkeiten gibt. Er hat auch gezeigt, dass sie nicht auf sogenannte Migrationsmilieus beschränkt sind. Prügelnde Männer, arbeitslose Söhne, Armut, Einsamkeit, Perspektivlosigkeit gibt es auch in deutschen Familien, und in solchen Siedlungen sind sie sichtbar.

Wir leben nicht in einer Kölner Hochhaus-Siedlung mit Armutsproblem, kahlen Rasenflächen, verwahrlosten Spielplätzen und herumlungernde Jugendlichen. Wir wissen nicht, wie es ist, dort zu leben. Wir wissen auch nicht, ob der „Tatort“ das Leben dort realistisch abgebildet hat. Das kann man bei einem Fernsehfilm nicht voraussetzen. Wir wissen aber, dass es Menschen gibt, die nicht auf der Sonnenseite leben. Das sollten wir nie vergessen, wenn wir uns über Fremdenfeindlichkeit, Radikalismus, Engstirnigkeit und mangelnde Toleranz aufregen.

Ich will nicht falsch verstanden werden: Niemand hat das Recht, rassistisch, beleidigend oder herabwürdigend anderen gegenüber zu sein. Aber ich bin sicher: Es gehört viel mehr dazu, in Köln-Porz, in Berlin-Neukölln oder in München-Hasenbergl tolerant und antirassistisch zu sein als in Harvestehude oder im Frankfurter Westend – oder auf dem Land in Holstein.

Nachtrag zum „Tatort“: Ein Ermittler der Mordkommission hat mir mal erzählt, er mache diese Arbeit jetzt 15 Jahre. Aber einen so schicken Tatort wie im „Tatort“ habe er noch nie gehabt. Das deckt sich mit meinen Beobachtungen als Polizeireporterin. Die Gefahr, gewaltsam ums Leben zu kommen, ist in bestimmten Milieus und Gegenden deutlich höher als in anderen.

Ein Kommentar

  1. Ich glaube, so schwierig ist das in Berlin-Neukölln gar nicht, tolerant und antirassistisch zu sein, denn es lebt sich dort ziemlich gut und überwiegend friedlich, was ja auch der Zustrom von jungen Leuten und die steigenden Mieten bestätigen. Natürlich gibt es Probleme, aber die gibt es auch in Berlin-Schöneweide, einem Stadtteil im Südosten, der immer noch als rechte Hochburg gilt, obwohl sich auch dort ein Zuzug von Familien, jungen Leuten und Kunstschaffenden bemerkbar macht. In Schöneweide ist der Ausländeranteil immer noch sehr gering, aber der Rassistenanteil wahrscheinlich immer noch sehr hoch.

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