Die Macht der Maidan-Bilder

Ich war gestern Abend bei unserer Chorprobe. Zum Abschluss haben wir das Abendlied „Der Lärm verebbt“ gesungen. Darin kommen diese Zeilen vor: „Gib Nacht und Ruhe, wo man heut litt. Lass Recht aufblühen, wo Unrecht umgeht. Mach die Gefangnen der Willkür frei. „ Am Ende kam mir der Gedanke: Das haben wir jetzt für den Maidan gesungen. Das war nicht einmal 24 Stunden nach dem Ausbruch der Gewalt in Kiew. Kaum jemals zuvor haben sich Fotos von Gewalt und Tumult so in mein Gedächtnis gegraben wie die vom Maidan. Das hat Gründe.

Der Maidan ist eine Bühne. Er liegt den Fernsehkameras zu Füßen, wie in einem Amphitheater. Damit gleicht er höchstens noch dem Tahrir-Platz in Kairo, wo die Revolution ebenso auf einer Bühne spielte wie jetzt in Kiew. Außerdem arbeiten auf dem Maidan Meisterfotografen. Die Qualität der Fotos ist so groß, ihre Aussage so eindringlich. Sie dokumentieren die Verletzungen, das Leiden, das Sterben, die Verzweiflung auf beiden Seiten so intensiv, wie ich es selten zuvor gesehen habe. Ich habe höchsten Respekt vor ihnen, wie sie angesichts der um sie herum tobenden Gewalt noch solche Fotos machen können. Sie sind ganz nah dran. So nah, dass sie sich selbst in Gefahr begeben.


Es sind diese hervorragenden, hautnahen, blutigen Bilder, die die Kämpfe vom Maidan so sehr in das Bewusstsein rücken. Beinahe jede Tageszeitung hatte heute die brennenden Barrikaden auf dem Titel. In ihrer Grausamkeit schöne Fotos. Ästhetische Gewalt. Faszination des Feuers, in orange-roten Tönen gehalten. Oder die Fotos des Geistlichen, der mit dem bronzenen Kreuz von der Brust seines Talars die Verwundeten segnet. Die erschöpften, Schweiß verschmierten Soldaten und Polizisten, die mit großen, müden Augen in die Kameras gucken. Das sind Bilder, die die Phrase von denen, die mehr sagen als 1000 Worte, belegen. Viele dieser Fotos sind auf Twitter zu finden.

Die Fotoflut vom Maidan und ihre Wirkung belegen, wie wichtig Bilder sind. Ohne Bilder keine Aufmerksamkeit, ohne Aufmerksamkeit keine politische Intervention, keine Boykotte oder Embargos, keine Sanktionen, keine Spendenaktionen oder Hilfsprogramme, etwa bei Hungersnöten oder nach Naturkatastrophen. Haben wir alles hundert Mal erlebt. Die vergessenen Konflikte, das vergessene Leid, weil es keine oder nicht genug Bilder gab. Das ist nicht neu, wird durch die Bilder vom Maidan aber wieder einmal eindrucksvoll bestätigt.


Ich maße mir nicht an zu beurteilen, wer die Täter, wer die Opfer auf dem Maidan sind. Darüber sagen die Bilder nichts. Sie dokumentieren nur das Leiden, die Gewalt, den Protest. Ich wünsche mir, dass alle Opfer dieser Welt solche starken Fürsprecher in Form solch starker Fotos haben. Das dürfte ein Wunschtraum bleiben. Aber ich träume ihn weiter. Den Menschen in Kiew wünsche ich, dass das Sterben ein Ende hat und wieder die Normalität einkehrt, die früher dort herrschte. In Freiheit und Demokratie.

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