Antisemitismus, Rassismus, Feminismus: Die Arroganz der Wissenden

War Wilhelm Busch Antisemit? Darf ich ihn deshalb nicht mögen? Wäre ich auch Antisemitin oder Rassistin, wenn ich vor 100 Jahren gelebt hätte? Darf ich mit meinem heutigen Wissen unseren Ahnen ihre Geisteshaltung vorwerfen? Hätten sie es besser wissen müssen? Und hätte ich es besser gewusst? Fragen, die mir immer wieder durch den Kopf gehen und gerade erst durch Wilhelm Busch neue Nahrung bekommen haben. Sind wir heute, als Wissende, gegenüber unseren Ahnen zu arrogant.

Ein Tweet hat mich auf Wilhelm Busch als Antisemiten gestoßen.

Peter Haage, Verfasser der Busch-Biographie Wilhelm Busch. Ein weises Leben
zitiert darin Joseph Kraus, den Verfasser der Wilhelm-Busch-Monographie Busch, Wilhelm: In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten:

Man darf bei der Beurteilung der zitierten Stellen nicht vergessen, dass sie zu einer Zeit verfasst wurden, als der Name Auschwitz noch nicht zum Begriff gewoden war.“

Kraus bezieht sich auf die Einleitung zur „Frommen Helene“ und auf das fünfte Kapitel von „Plisch und Plum“, in denen Busch angeblich oder tatsächlich antisemitische Ressentiments bedient.  Busch-Biograf Michael Diers Wilhelm Busch: Leben und Werk bewertet in einem Beitrag der Jüdischen Allgemeinen Buschs Antisemitismus.

Ich will mich nicht weiter mit Wilhelm Busch aufhalten. Die Debatte, ob er Antisemit ist oder nicht, führt mich zu meinem eigentlichen Thema. Wie wächst das Bewusstsein für menschenverachtende Haltungen, ob Rassismus, Antisemitismus oder Antifeminismus? Und können wir bei der Generation von vor Auschwitz, vor Onkel Toms Hütte und vor der Sufragettenbewegung und dem Feminismus eine Haltung voraussetzen, die wir in der Rückschau viel leichter einnehmen können?

Dafür suche ich mir mal Kronzeugen in der Geschichte. Für die These, dass Menschen auch vor Auschwitz Antisemitismus verurteilt haben, spricht die Tatsache, dass es die Gerechten unter den Völkern gab und auf der Liste dieser Gerechten allein 525 Deutsche stehen. Menschen, die Juden vor der Vernichtung retteten oder es versuchten. Menschen, die auch vor Auschwitz erkannten, dass dort ein unfassbares Verbrechen geschah und die sich von der alles einnehmenden Nazipropaganda nicht vereinnahmen ließen.

Beispiel Rassismus: Kein Phänomen der Moderne, sondern ein Haltung mit einer sehr langen Geschichte. Der Begriff Antirassismus entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass sich Menschen auch in Zeiten, in denen Rassismus als normal galt, gegen diese menschenverachtende Einstellung wandten, belegen aber Bewegungen wie die Anti-Sklaverei-Bewegung und der Humanismus. Und was ist Friedrich Spees (1591-1635) Kritik an Folter und Hexenwahn, dargestellt von Walter Rupp in „Friedrich Spee: Dichter und Kämpfer gegen den Hexenwahn„, anderes als ein frühes  Eintreten für Frauenrechte und gegen Ausgrenzung?

Es hat also schon immer Menschen gegeben, die höhere Werte über die herrschende Haltung und Menschenwürde, Gleichheit, Gewaltfreiheit und Recht über die angebliche Staatsräson gestellt haben. Aber das sind über Jahrhunderte Ausnahmeerscheinungen gewesen. Haben wir also heute das Recht, die Unwissenden zu kritisieren und arrogant auf sie hinabzuschauen?

Ich frage mich manchmal, wie ich selbst gehandelt hätte im Dritten Reich oder in vorherigen Unrechtsregimen. Hätte ich Unrecht erkannt, wo Unrecht geschieht? Vieles hängt sicher davon ab, wie jemand aufgewachsen ist. In welchem Kontext sein Elternhaus steht. Ich glaube daran, dass nicht alle Menchen die Chance haben, von vornherein die richtigen Werte zu vertreten, wenn sie nicht mit ihnen aufgewachsen sind oder sie später gelernt haben. Das Umfeld spielt eine sehr große Rolle. Und als Erwachsene haben wir nur dann die Chance, unserer Einstellung zu ändern, wenn unser Umfeld uns den Anstoß dazu gibt – sei es in Form von Menschen oder Lektüre oder Erlebnissen.

Heute, im Rückblick auf Slavenhaltergesellschaften, auf Auschwitz, auf die 1950er-Jahre, als Männer bestimmen konnten, ob ihre Frauen arbeiten durften, ist es so leicht, auf die richtige Haltung zu pochen und Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit zu verurteilen. Es ist gut und richtig, dass es so ist. Aber es gibt uns nicht das Recht, mit der Arroganz der Wissenden auf unsere Vorfahren herabzusehen.  Sie hatten es deutlich schwerer, das heute als richtig angesehene Bewusstsein zu entwickeln. Und deshalb verzeihe ich Wilhelm Busch seine abfälligen Äußerungen über die Juden und lese ihn trotz seine Alltags-Antisemitismus noch immer mit Vergnügen.

Ich würde mich sehr über Kommentare mit eurer Meinung dazu freuen. Stellt ihr euch diese Fragen auch manchmal? Habt ihr Nachsicht mit antisemitischen, rassistischen, menschenverachtenden Haltungen unserer Ahnen? Oder verurteilt ihr sie mit der Weltsicht von heute für ihre Einstellung?

3 Kommentare

  1. Mag sein, dass wir heutzutage nichts besonderes sind, wenn wir uns um Antirassismus und all diese Dinge kümmern, weil wir im Zeitgeist mitschwimmen.
    Nichts anderes wollte ich aber auch sagen, W. Busch war zu seiner zeit nichts besonderes, genauso dumm wie viele zu seiner Zeit.
    Nichts besonderes als Mensch.
    Aber ein guter Zeichner zu seiner Zeit.
    Ich finde es wichtig, Menschen un ihrer Zeit zu beurteilen, „verzeihen“ ist für mich da ein falsches Wort. Ich habe ja nicht direkt unter ihnen gelitten, jedenfalls nicht unter W. Busch. Ich schrieb, er sei dumm gewesen, und dazu stehe ich.

    Mir ging es um eine Vorbildfunktion, das hast du zu Recht geschrieben, da müsste man woanders nachsehen.

    Vor einiger Zeit habe ich einen fiktiven Roman über Spinoza gelesen:
    http://www.amazon.de/Das-Spinoza-Problem-Irvin-D-Yalom/dp/3442742080/ref=pd_sim_b_9?ie=UTF8&refRID=190CP99ZRNB3FH4582FC

    Eine Ausnahmeerscheinung als Denker und als Mensch und sicherlich eher ein Vorbild. Denn so viel ist klar: Was wir uns heute bemühen in der Gesellschaft zu etablieren, war schon immer ein Problem, vor Auschwitz gab es Pogrome, zu Zeiten Spinozas wurden die Juden in Spanien bedrängt und ermordet, nur der eine hat’s eben gesehen und die anderen haben weggeschaut.

    Das Hinschauen ist mir Vorbild.

  2. Liebe Fiona,
    vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Spinoza ist einer von diesen Kronzeugen dafür, dass eine humanistische Haltung keine Frage des Zeitalters ist, genauso wie die, die ich angeführt habe. Ich bin halt immer etwas ziegespalten: Können wir von allen Menschen erwarten, dass sie ein Gefühl dafür haben oder wissen, was richtig und humanistisch ist? Oder legen wir die Messlatte damit zu hoch an und müssen Verständnis dafür haben, wenn andere nicht hellsichtig genug sind. Letztlich weiß ich keine endgültige Antwort darauf.

  3. Ich kann deine problematik gut verstehen. Natürlich denkt man darüber nach, wie man die eigene familie beurteilen muss. In der deutschen gesellschaft gab es elter/großeltern, die in den faschismus mal mehr mal weniger involviert waren. Dazu gibt es gute literatur, über kinder der täter versus kinder der opfer. Meine meinung fand ich immer wieder in den schriften der psychoanalytischen autoren wieder. Da ging es um unbewußte schuldgefühle und deren auswirkung.

    Toll auch in den romanen von Bernhard Schlink http://www.buch.de/shop/home/rubrikartikel/ID3086447.html?ProvID=10910550 z b. beschrieben.

    Unterm strich habe ich für mich beschlossen, dass nichts unter den teppich gehört, nicht zwingend um menschen zu verurteilen, dies ist ein nebenkriegsschauplatz, sondern um daraus zu lernen.
    Dabei spielen die bedingungen wie ein menschen aufwächst, manipuliert wird, um im falle eines faschistischen regime funktionalisiert werden zu können, eine wichtige rolle um zu verhüten.

    Das bestrafen von ehemaligen ss-leuten hat nur symbolcharakter. Ansonsten ist es überflüssig wie strafe ohnehin kaum etwas taugt.

    Aber man kann lebensläufe nachvollziehen und feststellen, da fand einer nicht heraus, konnte aus den und den gründen nicht zur humanität finden.

    Vor vielen jahren besuchte ich sogenannte „sokratische gespräche“ wo wir selbst darüber philosophieren konnten, was die basis humanistischen denkens ist, aus dem alltagsdenken/erleben heraus.
    Die erfinder der methode, u.a. L. Nelson
    glaubten ganz fest an eine art grundwissen aller menschen was gut und was falsch im h. sinne ist.

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