Polizeireportage anno 1881: ruchlos und unerwachsen

Ich bin seit mehr als 20 Jahren mit kurzen Unterbrechungen als Polizeireporterin unterwegs, um Unfälle, Brände und Bluttaten zu dokumentieren. Offenbar kein neuer Job, denn mein Polizeisprecher der Herzen ist bei seiner Ahnenforschung auf eine Polizeireportage aus dem Jahr 1881 gestoßen. Mein Kollege von damals hat natürlich noch eine ganz andere Sprache geschrieben als wir es heute tun. Deshalb kommt jetzt hier die traurige Geschichte der Witwe M., einmal im Original und einmal in der von mir übersetzen Form, wie sie heute in unseren Zeitungen erscheinen würde.

Witwe

Variante 1881

(Hervorhebungen und Rechtschreibung wie im Original, Anonymisierung von mir)

Zufolge ruchloser Brandstiftung wurden am 24. November d. J. (1881) das Wohnhaus und die Scheune der Wittwe des Eigentümers Ernst M. zu Wiesenthal auf den Grund zerstört, während das Stallgebäude argen Schaden erlitt. Die Wittwe M., alt und schwach, hat erst vor etwa 14 Tagen ihren Ernährer verloren und befindet sich nun mit sechs unerwachsenen Kindern in der traurigsten Lage. Ihre Gebäude waren mäßig, ihre Mobilien nicht versichert; von letzteren sind die Stroh- und Futtervorräte gänzlich verbrannt, dazu 2 Kühe und 1 Stärke, während 2 Schweine und 1 Schaf durch das Feuer so verletzt wurden, dass sie getötet werden mussten. Da außerdem das Eigentum der Wittwe M. erheblich verschuldet, so ist ihre und der Kinder Existenz in Frage gestellt.

Unter diesen Umständen erscheint es, um der Familie einigermaßen wieder aufzuhelfen, geboten, die öffentliche Wohltätigkeit, namentlich in Wiesenthal und den benachbarten Ortschaften, in Anspruch zu nehmen, und richte ich daher an die Ortsbewohner die Bitte, die Wittwe M. durch Liebensgaben zu unterstützen, an die Ortsvorstände, letzte entgegenzunehmen und zuzuführen.

Unterschrieben hatte den Aufruf  „der Landrath“ namens von Pawel, erschienen ist dieser Bericht als amtliche Bekanntmachung, nicht als redaktioneller Beitrag. Die Rechtschreibung entspricht den Regeln vor der Reform von 1901.

Variante 2013

(Bericht von damals, von mir übersetzt)

Ein Großfeuer zerstörte gestern in Wiesenthal Wohnhaus und Scheune einer alleinerziehenden Mutter von sechs Kindern.  Menschen wurden nicht verletzt, zwei Kühe und ein junges Rind starben in den Flammen. Zwei Schweine und ein Schaf erlitten so schwere Verletzungen, dass sie notgeschlachtet werden mussten. Als Ursache des Feuers vermutet die Polizei Brandstiftung, die genaue Schadenshöhe ist noch unbekannt.

Der Fall ist deshalb besonders tragisch, weil die Hofeigentümerin erst vor zwei Wochen ihren Mann verloren hat und nun mit ihren sechs Kindern ganz allein dasteht. Offenbar war der Hof unterversichert. Angesichts dieser schwierigen Lage der Frau hat Landrat von Pawel einen Spendenaufruf an die Bevölkerung gerichtet. Wer der Hofeigentümerin und ihren sechs noch minderjährigen Kindern helfen möchte, wird gebeten, sich an die Dorfvorsteher zu wenden.

Ich weiß leider nicht, wie groß die „Liebensgaben“ von damals waren und ob und wie die „Wittwe“ ihr weiteres Leben und das ihrer Kinder gestalten konnte. Ich bin sicher, die Hilfsbereitschaft war ähnlich groß, wie sie heute sein würde. Der Bericht von damals zeigt bei aller blumigen Sprache, dass die Probleme, der Kummer und das Leid, die „ruchlose Brandstifter“ anrichten, heute nicht anders ist als damals.

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