Der digitale Graben ist eine ganz, ganz tiefe Schlucht

Wer sind wir, die wir täglich in diesem Internetz unterwegs sind? Die wir unsere Bankgeschäfte online erledigen, unsere Musik downloaden, unsere Videos streamen? Ganz normale Leute? Ja, aber offenbar immer noch nur ein Teil der Gesellschaft. Ein Erlebnis hat mir dieser Tage gezeigt, dass der digitale Graben in Wirklichkeit eine ganz, ganz tiefe Schlucht ist. Hier wir von der sogenannten Netzgemeinde, dort diejenigen, die ihren Rechner nur nutzen, um Mails zu schicken und bei Ebay zu steigern und ganz, ganz hinten eine gar nicht kleine Gruppe, die nicht mal weiß, wie man Internet schreibt und was das ist.

Die Augen geöffnet hat mir ein Besuch bei einer Bank. Ich war schon seit Jahren in keiner Schalterhalle mehr. Ich bin schon Ewigkeiten nicht weiter gekommen als bis zum Geldautomaten. Alle Bankgeschäfte wickele ich per Online-Banking ab. Nun aber führte mich eine besondere Situation an einen Bankschalter. Ich hatte dort etwas zu erledigen, was eineinhalb Stunden gedauert hat. Und dort habe ich weit über den digitalen Graben hinweggeschaut.

Zugegeben, es war die kleine Filiale einer regionalen Volksbank irgendwo in einem norddeutschen Dorf. An diesem Tag war der Bankangestellte, der dort täglich arbeitet, nicht da. Die Zentrale hatte eine Vertreterin geschickt. Dann kam ein Herr herein. In der Hand einen Auszahlungsschein. Er wolle 100 Euro haben. Ob er seine Kontonummer eintragen könne, fragte die Bankangestellte. Die wisse er nicht. „Ich dachte der Kalle wäre da.“ Kalle (Name geändert) ist offenbar der Ein-Mann-Filialleiter dieser Dorfbank. Während der eineinhalb Stunden, die meine Angelegenheit in der Bank erforderte, bekam ich diesen Satz noch oft zu hören. Es kamen Leute mit Überweisungsträgern, mit Ein- und Auszahlungsscheinen. Alle wussten ihre Kontonummer nicht und hatten sie auch nicht dabei. Jedesmal musste die Angestellte im Computer nachsehen. Und jedesmal die Bemerkung: „Ich dachte, der Kalle ist da.“ Der Kalle kennt offenbar die Kontonummern aller Kunden auswendig. Auch bei der Variante „Sagen Sie mir mal, wie viel Geld auf meinem Konto ist“ hätte der Kalle wahrscheinlich nicht mal nachsehen müssen. Auch in diesem Fall suchte die Angestellte erst einmal die Nummer heraus und blickte dann in ihren Computer. Die Kunden ohne Kontonummer waren übrigens beileibe nicht nur alte Leute. Etliche waren in meinem Alter.

Übrigens: Die Bank verfügt über einen Kontoauszug-Drucker und einen Geldautomaten. Die stehen aber offenbar nur zur Zierde da.

Ich habe die Bank einigermaßen erschüttert verlassen. Ich dachte, so etwas gibt es gar nicht mehr. Nach diesem Erlebnis bin ich nicht mehr so sicher, ob sich diese Dialoge nicht genauso in vielen, auch größeren Banken täglich abspielen.

Und nun grübele ich. Wie weit weg von großen Teilen der Bevölkerung sind wir Menschen, die sich täglich so sicher im Netz bewegen, als wäre es ihre Wohnung? Die bloggen, in Foren schreiben, Online-Banking betreiben, Formulare online ausfüllen, ihre Bilder in Fotoforen hochladen oder gar Videos bei Youtube einstellen. Ist das oft belächelte Neuland wirklich so groß? Offenbar. Können wir uns dann noch genug in die Lebenswirklichkeit der Internetverweigerer und Neulandbewohner hineinfühlen?

Offenbar lebt da draußen eine Parallelwelt, die bis heute nicht im Online-Zeitalter angekommen ist. Nach dem Erlebnis in der Bank glaube ich nicht, dass der Graben, der eine Schlucht ist, in naher Zukunft zugeschüttet werden kann. Um die auf der anderen Seite nicht abzuhängen, darf das Netz nicht alles sein. Gut, dass sich so vieles, fast alles, online regeln lässt. Aber die alten Vertriebs- und Verwaltungswege müssen offen bleiben, wenn wir nicht diejenigen weit jenseits des digitalen Grabens abhängen wollen. Man stelle sich nur mal vor, es gäbe keinen Kalle mehr, der die Kontonummern seiner Kunden auswendig weiß.

3 Kommentare

  1. Gar nicht weit weg. Es ist eine Frage von Bequemlichkeit. In diesem Fall, bei euch draussen opm Dörben mit einer Bankfiliale, die ein paar Dutzend Kunden hat, die sich und den Angestellten alle vom Kegelabend her kennen, ist es bequemer am späten Vormittag oder frühen Nachmittag kurz rüber zu gehen und Tante Emma, ‚tschuldigung, Onkel Kalle mal alles machen zu lassen.

    Dazu ein kleiner Plausch, vielleicht ein Käffchen …

    Andere Dinge werden ebenso am Computer und – Netz vorausgesetzt, habt ihr ja nicht so recht – per internationaler Vernetzung gemacht. Unabhängig vom Alter, vom sozialen Stand, sogar von der Ausbildung.

    PS: Gerade das mit dem Alter ist ein Klischee, das mich immer verwundert, da ich reichlich alte bis sehr, sehr alte Menschen kenne, die nicht mehr Probleme mit Computer und Internet haben, als viele Junge. Schön, dass du das vermieden hast.

    1. Du hast Recht, es ist ein großes Stück Bequemlichkeit, getreu dem Motto „det hebt wi immer so mokt“. Und gerade die Bequemlichkeit zwingt die Leute nicht dazu, sich mit neuer Technik auseinander zu setzen, Alte wie Junge. Ich würde nie dem Irrglauben verfallen, das sei eine Frage des Alters. Dazu kenne ich viele Ältere, die fit am Rechner sind und sich online sicher bewegen und sogar Spaß daran haben.

  2. Muss Dierk Recht geben. Eine Frage der Bequemlichkeit: Die brachte mich andersherum schon Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum online-Banking. Weil die nächste Bankfiliale 15 km weit weg ist. Wie übrigens auch der nächste Buch-Shop, das nächste Kino, die nächste Post, das nächste Reisebüro.

    Wer auf welcher Seite des Grabens steht hat sicher auch mit Lebensumständen zu tun. Ohne Zwang zur Digitalisierung (durch die Umstände) wechselt es sich halt schwerer vom Analaogen ins Digitale.

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